GESTALT THEORY, DOI 10.1515/gth-2017-0016 © 2017 (ISSN 2519-5808); Vol. 39, No. 2/3, 215-234
Teil II Gemeinschaftsbildung und sozialer Raum Karl-Heinz Lembeck
Geschichte zwischen Erinnerung und Phantasie*
1. Geschichten und Geschichte
Dass der Geschichtsbegriff mit dem der Erinnerung konnotiert wird, ist nichts Neues. Allerdings wird das zumeist skeptisch gesehen, da Erinnerung vor allem als ein subjektives Orientierungsvermögen gilt, das mehr über das historisch kontingente Bewusstsein aussagt als über die Geschichte selbst. Niemand kann oder sollte jedoch, so die herrschende Auffassung, deren objektiven Charakter ernsthaft bestreiten wollen. Geschichte ist eben ein Geschehen, das geschieht, gleichgültig gegenüber dem menschlichen Interesse an ihr. Denn alles, was die Geschichte als singulare tantum auszeichnet — bekanntlich ein Konzept, das selbst erst seit der Mitte des 18. Jahrhunderts Konjunktur gewinnt1 —, muss jedenfalls verloren gehen, wenn ihre Einheit sich in vielfältige Geschichten auflöst. Geschichte aufs Subjekt zentriert: Das ist dann nur noch ein Aggregat von Ereignisgemengelagen, an die sich jeder anders erinnert. Geschichte, so gelesen, droht ins Zusammenhanglose zu zerfallen, individuell verloren zwischen Interessen und Zufällen, theoretisch zerrieben zwischen Psychologie und Erkenntnisphilosophie. Von Geschichte als identifizierbarem Gegenstand einer soliden Wissenschaft kann dabei, so scheint es jedenfalls, nicht mehr ernsthaft die Rede sein.
Dennoch ist über die Bedeutung der Erinnerung für die Geschichtsforschung gerade in den letzten 60 Jahren in Deutschland, bekanntlich aus gutem Grund, immer wieder nachgedacht worden. Nietzsches Klage in der Zweiten unzeitgemäßen Betrachtung über "zu viel Geschichte", die am Leben hindert,2 ist mit obligatorischem Blick auf Auschwitz heute kaum noch zu rechtfertigen. (Man konnte das etwa noch am Ende des 20. Jahrhunderts — 1998 — an der hysterischen Polemik gegen Martin Walsers Friedenspreis-Rede in der Paulskirche studieren.) Allerdings sind diese Klage Nietzsches und jene Diskussion um den Wert der Erinnerung, genau besehen, miteinander verwandt. Das erkennt man bereits dort, wo jener kritische Gedanke über die antiquarische Wucht von "zu viel Geschichte" gegen Ende der 50er Jahre wiederkehrt.
* Bei den Herausgebern eingegangen am 26.11.2012 — Anm. d. Hrsg.
1 Vgl. Koselleck, 1971.
2 Nietzsche, 1988, S. 279 ff.
Seinerzeit unter Historikern vielleicht eine Ausnahme, aber geschichtstheoretisch äußerst hellsichtig, liefert der Göttinger Althistoriker Alfred Heuß 1959 in seinem kleinen Büchlein mit dem Titel Verlust der Geschichte eine scharfe Analyse der notorischen Historisierung der Nachkriegsgesellschaft. Dieser Zustand freilich erscheint Heuß pathologisch, weil insbesondere die Historikerzunft sich im Mantel objektivierender Geschichtswissenschaft einerseits mit Stolz auf ihr historistisches Erbe zu berufen pflegte, dem man die große Entdeckung verdankte, dass alles und jedes im Horizont seiner geschichtlichen Herkunft zu lesen sei. Damit erhielt es dann erst den erwünschten Status eines neutral bestimmbaren historischen Gegenstandes. Andererseits durfte man sich auf diese Weise dankbar in kollektiver Amnesie üben; denn was einem als objektives Geschehen entgegentritt, für das musste man sich sowenig verantwortlich fühlen wie ein Chemiker für die ätzende Wirkung seiner Säuren. Kein Wunder, dass viele Teile einer Gesellschaft mit sehr eigener Geschichte zumal in Deutschland die Betrachtung derselben im Modus des neutralen Beobachters goutierten und das dazu notwendige methodische Instrumentarium zu feiern verstanden.
Heuß' Diagnose für diesen Zustand lautet: Die Geschichte im eigentlichen Sinne ist uns verloren gegangen; und zwar eben nicht im Sinne des vermeintlich objektiven Geschehens, wohl aber im Sinne einer Geschichte, die der Erinnerung zugänglich wäre. Doch nur diese Geschichte sollte mich eigentlich interessieren. Denn der Vergangenheit, so Heuß, werde ich nur gewahr, "wenn ich mich selbst in ihr auffinde".3
Diese These wird nun freilich weder von solipsistischen noch von romantischen Motiven getragen. Denn erstens referiert die Erinnerung immer schon auf das reziproke Verhältnis des Ich zum Du, also auf die Mit-Eingeschlossenheit der kollektiven in die individuelle Erinnerung, selbst wenn jene kollektive Seite nur im individuellen reflexiven Vollzug des Sich-Erinnerns wirksam wird. — Zweitens findet sich ein klares konstitutives Verhältnis zwischen der kollektiven und der individuellen Erinnerung: Denn das sogenannte kollektive Gedächtnis ist doch das Ergebnis eines (nicht zuletzt geschichtswissenschaftlich betriebenen) Stiftungsakts. Dieser Stiftungsakt, der eben wesentlich "Sache des Historikers"4 ist, ruht auf der Basis von mitteilender Quelle und Zeugenschaft. Zeugenschaft aber gäbe es nicht ohne individuelle Erinnerung. — Drittens schließt die universale Historisierung von allem und jedem auch die eigene Gegenwart mit ein. Diese wäre aber gar nicht zugänglich ohne ein Bewusstsein von ihr, für welches wiederum die eigene Erinnerung mit-konstitutiv ist. Das wird gern übersehen, obgleich es, so Heuß, "angesichts des Umstandes, daß von jedem objektivierenden Historiker
3 Heuß, 1959, S. 15.
4 Ibid., S. 23.
stets echte ursprüngliche Erinnerungsdaten zu gegenständlichen Präterita verarbeitet werden",5 eigentlich selbstverständlich sein müsste. Geschichte wäre demnach vor allem "transzendierte Erinnerung".
Diese Verhältnisse werden, so lautet der Vorwurf, im Modus objektivierender Geschichtsschreibung weitgehend außer Acht gelassen. Das aber ist mit Blick auf das 'Geschäft' des Historikers, die Stiftung kollektiver Erinnerung, fatal. "Denn Geschichte als Wissenschaft kann 'Erinnerung' wohl in ein anerkanntes geschichtliches Faktum verwandeln, indem sie sie zerstört, aber sie kann von ihrer Position aus unmöglich den Prozeß umkehren und mit ihren Mitteln neue 'Erinnerung' schaffen [...]."6 Nicht also eine etwaige Enthistorisierung, sondern ausgerechnet die entschiedene Historisierung der Welt hat offenbar zur Margina-lisierung des Erinnerungsphänomens geführt.
Die Lücke, die derart zwischen Geschichte als Wissenschaft und Geschichte als Erinnerung klafft, bestätigt schließlich die Klage Nietzsches über den Hang zum Antiquarischen in der Forschung aufs Neue. Alles und jedes kommt nebeneinander zu stehen, aber es hat mit uns kaum noch etwas zu tun. Heuß' Folgerungen daraus klingen am Ende nicht wirklich zuversichtlich, wenn er den Verlust eines einheitlichen Geschichtsbewusstseins bedauert und lediglich anregt, jene Einheit statt in der Geschichte doch lieber im Bewusstsein selbst zu suchen. Er empfiehlt daher eine "Wende zur Erkenntnistheorie".7 Zuversichtlich klingt das aber vor allem deshalb nicht, weil man vermuten darf, dass auch die Wende aufs Bewusstsein keineswegs ohne Weiteres gewährleistet, jene verlorene Einheit der Geschichte zurückzugewinnen. Auch Heuß' eigene Andeutungen dazu verbleiben im Konjunktiv und plädieren für eine Debatte um die theoretischen Grundlagen einer Geschichtsschreibung im Zeichen der Erinnerung, ohne dass es ihm wert scheint, dazu noch einmal ins 19. Jahrhundert — sozusagen ins Jahrhundert des Sündenfalls — zurückzuschauen. Richtig ist, dass die Debatte seither an Fahrt aufgenommen hat; falsch ist aber wohl die Vermutung, ein Blick zurück könne nicht weiterhelfen.
Seit Heuß hat es allerdings noch etwas länger gedauert, bis besagter Zug der Debatte auf Reisegeschwindigkeit beschleunigt hat. Erst seit ca. 25 Jahren wird der Themenkomplex 'Geschichte und Erinnerung' auch in Historikerkreisen theoretisch vertieft debattiert.8 Dabei sind gewiss die Forschungsthesen zum 'kulturellen Gedächtnis' derzeit die populäreren, jedoch bleiben sie — anders als seinerzeit
5 Ibid., S. 40.
6 Ibid., S. 53.
7 Ibid., S. 72.
8 Zu den jüngeren Protagonisten dieser Debatte zählen Clemens Wischermann und Katja Patzel-Mattern — wenngleich sie hier und da wohl noch immer als 'Außenseiter' gelten. Einen gewissen Überblick zur Diskussion (jedenfalls bis 2001) liefert Bergenthum, 2005.
Heuß — dem Gedanken einer Wiederanbindung der Geschichtsforschung an das Phänomen der individuellen Erinnerung gegenüber reserviert.9 Denn solch individuelle Erinnerung gilt ihnen mehr oder weniger als Mythos: Es gibt sie angeblich gar nicht, weil Erinnerungen immer nachträglich und dabei stets in vorgegebene semantische Formationen eingebunden seien. Kollektive Erinnerung hingegen beziehe sich auf diese schon vorliegenden Diskurse. Mit der Entstehung verbindlicher Formen von Erinnerung gehe sie, losgelöst vom unmittelbaren Zeiterleben, schließlich in das kulturelle Gedächtnis über. Darin findet sich dann der objektive Bestand, der als Medium historischer Forschung quasi zum Ersatz der überkommenen Vorstellung einer Geschichte als res gestae erklärt wird.10
Das individuelle Erinnern wird in dieser Auslegung jedenfalls erneut margina-lisiert; es erfährt das gleiche Schicksal wie in anderen objektivistisch angelegten geschichtstheoretischen Diskursen auch: Es gerät im Streit um den Wert von Oral History und historischer Zeugenschaft unter Generalverdacht. Das Festhalten an der historischen Rolle des verantwortlichen Individuums, so die herrschende Vermutung, stelle nur den vergeblichen Versuch dar, die Fäden des Geschehens in der Hand zu behalten, insofern Geschichte hier als Medium der Gestaltung des individuellen Lebens verstanden wird. Doch das wirkt aus der Perspektive der Kritiker wie schiere Verzweiflung. Der strukturgeschichtlich nicht greifbare 'Rest' des historischen Geschehens, an den dieses historische Bewusstsein sich angeblich klammert, wird darum ins Reservat der Erzählung verbannt, in der das narrative Zeugnis aus den Quellen der Erinnerung eine allenfalls geduldete, aber methodologisch kaum mehr beachtete Rolle spielt.
Doch eben dieses beinahe esoterisch anmutende Reservat rückt inzwischen wieder in den Fokus der Aufmerksamkeit. Geschichtsschreibung im Zeichen der Erinnerung wird salonfähig. Philosophisch prominent hat sich Paul Ricreur dieser Thematik angenommen und dabei insbesondere den Gedanken der Rückwirkung der Zukunftsorientierung auf die Gestalt der Erinnerung am Motiv der historischen Schuld expliziert: Gerade weil das Vergangene vergangen ist und nicht mehr als Faktum, sondern nur als ein Sinnbestand in Rede stehen kann, der prinzipiell auslegungsoffen ist, muss das geschichtliche Geschehen erinnert werden. Denn nur im Erinnerungsakt erweist sich dieses Geschehen als etwas, das sich grundsätzlich der Initiative eines historischen Subjekts verdankt.11 Insbesondere die moralische Seite solcher Initiativen kann vor einer "umdeutenden"
9 Im Zusammenhang mit Gedächtnisforschung bekanntere Namen sind die von Jan und Aleida Assmann oder Harald Welzer. Wie stark die Skepsis hier regiert, zeigt kurz und knapp ein Statement von Jan Assmann (Assmann, 2005, S. 77): "Man muss sich nur darüber klar werden, dass Erinnerung nichts mit Geschichtswissenschaft zu tun hat."
10 Vgl. dazu kritisch Patzek, 2011, S. 749.
11 Ricreur, 2001, S. 63. - Vgl. Ricreur 2004.
und somit verdrängenden Selbstentschuldung nur durch die Erinnerung bewahrt bleiben. Denn in der Erinnerung taucht die Vergangenheit nicht bloß als totes Handlungssediment auf, sondern erscheint weit häufiger als eine Geschichte "nicht gehaltener Versprechen". Dergestalt erinnert wird historische Schuld gerade nicht verdrängt, wohl aber wird die Gegenwart von der lähmenden Last einer nicht akzeptierten Verantwortung befreit und damit eskapistisches Vergessen ebenso wie endlose Verfolgung der Schuldigen vermieden. Bei all dem, was Ricœur hier anspricht, handelt es sich jedoch primär eben um subjektive Zuständlichkeiten: Erinnerung, Schuld, Verantwortung, Verzeihen sind jenseits des individuellen Subjekts als Täter wie als Opfer nicht denkbar.12 Und ebenso wenig ist jenseits dessen denkbar, was Geschichte ist.
2. Die autobiographische Erinnerung: zwischen Individual- und Universalgeschichte
In dieser aktuellen Diskussion um das Verhältnis von individueller zu kollektiver Erinnerung und seine Bedeutung für die Geschichtsschreibung wird u.a. auch Wilhelm Dilthey wiederentdeckt. Auf besonderes Interesse stoßen hier natürlich dessen Thesen zur Bedeutung der Autobiographie als Quelle für die Rekonstruktion von Geschichte. Denn hier ist die maßgebliche Rolle der Erinnerung ja offensichtlich.13 Verfolge man den Weg, den die Selbstzeugnisse vor allem der sogenannten "großen Denker" beschreiben, so finde man darin "die Arbeit nicht nur eines einzelnen Menschen, sondern der Geschichte selber" vor.14 Diltheys Begeisterung für den historiographischen Wert der Autobiographie fällt dementsprechend euphorisch aus: In ihr seien "die nächsten Aufgaben für die Erfassung und Darstellung geschichtlichen Zusammenhangs durch das Leben selber halb gelöst", "das Geschäft historischer Darstellung schon durch das Leben selber halb getan".15
Dieses Aperçu von der "halb" getanen Arbeit indiziert hinsichtlich des historischen Erkenntniswerts der Autobiographie zunächst aber offenbar mehr Schwierigkeiten, als es Erklärungen liefert.16 Denn man muss sich ja vergegenwärtigen, dass doch ein erheblicher Unterschied besteht zwischen einer Selbstdarstellung, die von einem seiner selbst innegewordenen Leben 'geschrieben' wird, wie Diltheys Formulierung es suggeriert, und einer solchen, die das Ergebnis eines reflektierenden, sich seiner individuellen Identität vergewissernden Denkens ist. Der erste Fall unterstellt einen Primat der "Totalität des Geistes und der
12 Ibid., S. 155, S. 68.
13 Vgl. Dilthey, 1958, S. 221, S. 248.
14 Misch, 1949, I/2, S. 639.
15 Dilthey, 1958, S. 200f.
16 Darauf habe ich schon früher hingewiesen: Lembeck, 1999.
Universalgeschichte".17 Der zweite versteht das autobiographisch reflektierende Subjekt als ein Individuum, das den erinnerten Lebenslauf als einen beurteilt, der vor allem ihm selbst angehört, und das alle vermeintlich schicksalhafte Gebundenheit zuletzt als das bloße Außen einer freien Innerlichkeit relativiert. Denn nur so kann das Verstehen des eigenen Lebensverlaufs sich wieder nach außen kehren und zu jener geschichtlichen Bewusstheit gelangen, die sich schließlich in der verantwortlichen Gestaltung des individuell geführten historischen Lebens und seiner Bedingungen äußert.
Was hier zum Ausdruck gebracht wird, findet seinen ursprünglichen Keim in der Erlebnisintimität, die von der Erinnerung als der "Urzelle der Geschichte" aus zur Rekonstruktion ganzer Lebenszusammenhänge führt.18 Dieses Rekonstruktionsgeschehen orientiert sich Dilthey zufolge eben ausdrücklich am Akt individueller Erinnerung, die jedoch keine bloß bildhafte Wiederholung der Kontingenzen des eigenen Lebens bezweckt, sondern die darin immer schon einen Zusammenhang identifiziert. Nur aufgrund dieser Identifikation kann sie Erinnerung überhaupt heißen, weil sie eben zugleich dem 'Innewerden' des eigenen Lebens als auch der 'Verinnerlichung' eines historischen Bedeutungszusammenhangs dient. Dem in der Erinnerung liegenden Verstehen kommt somit die Kategorie der Bedeutung zu, über die sich historische Einheit erfassen lässt. Erinnerung ist der Modus, in der das Verstehen geschichtskonstitutiv wird.19
Die Selbstbiographie stellt darum den reflektierten Ausdruck des Selbstbewusst-seins einer historischen Gegenwart im Medium eines individuellen Lebens dar. In jeder bewussten Gegenwart ist deshalb deren eigene Geschichte bereits "halb" geschrieben, weil sie sich notwendig innerhalb eines gegebenen Bedeutungszusammenhangs vorfindet. Das historische Bedingungsgefüge eines kulturellen Milieus tritt hier je unmittelbar als der Reibungswiderstand zutage, an dem die persönliche Gestaltungskraft sich abarbeitet - und der insofern auch erst eine Möglichkeitsbedingung solcher Arbeit darstellt. Diese Dialektik von Fremd-und Selbstbestimmung, von Kollektiv- und Individualgeschichte, kommt in der Selbstbesinnung direkt als "Lebenserfahrung" zur Aussprache.
Doch könnte man darin nun die Gefahr vermuten, dass bereits jene eine 'Hälfte' der Geschichte bei Dilthey unversehens die 'ganze' okkupiert, insofern "die Geschichte nicht uns, sondern wir [ihr] gehören".20 Gadamer hat diesen Aspekt Dil-they gegenüber stark betont. Sein Einwurf steht damit offenbar im Horizont einer Auffassung, die die wirkungsgeschichtliche Vermitteltheit des Einzelnen
17 Dilthey, 1958, S. 191.
18 Ibid., S. 246f.
19 Vgl. ibid., S. 201f, S. 236.
20 Gadamer, 1990, S. 281.
als soziales Wesen zur unhintergehbaren Grunderfahrung der kulturellen Erinnerungsarbeit erklärt und die damit den Identifikationsgewinn der historischen Erinnerung per se an dieser Norm bemisst. Gadamer stützt damit offenbar auch Thesen der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung, wonach das "kulturelle Gedächtnis" notwendig als "normative Erinnerung" auftrete.21 Die individuelle Erinnerung hingegen bleibe jenseits des gesellschaftlichen Diskurses bedeutungslos.
Man muss sich indes fragen, ob mit dieser Unterstellung der Normativität jener sogenannten kulturellen Erinnerung und der Behauptung ihrer absoluten Dominanz nicht der Phänomenbestand der Binnendifferenzierung sozialer Erinnerungsvollzüge und damit die Tatsache der Vielfältigkeit der Erinnerungen der Individuen an das vermeintlich 'selbe' Ereignis ignoriert wird. Und ob derart nicht jenes Phänomen (jeder erinnert sich anders) gerade ausgeblendet bleibt, das doch erst Anlass gibt, an der Erinnerung als historisch verlässlicher Quelle zu zweifeln. Eben deshalb fordern einige wenige Historiker inzwischen wieder explizit, sich doch erneut auf die "Individualisierung der Erinnerung" in einem strengeren Sinne einzulassen.22
3. Die geschichtskonstitutive Kraft der individuellen Erinnerung
Wie weit lassen sich Diltheys Vorschläge nun für dieses Postulat fruchtbar machen? Einem ersten Verständnis nach kann sich die Autobiographie als authentische Form von Geschichtsschreibung erweisen, weil das historische Subjekt darin als Protagonist, Quelle und Berichterstatter zugleich fungiert, und weil dennoch die damit verbundene 'Intimität' des historischen Zugriffs keine autistische Anmaßung ist, sondern an Bedeutungszusammenhängen orientiert bleibt, die allesamt unter dem anthropologisch-praktischen Primat dessen stehen, was Henri Bergson - in dieser Hinsicht bekanntlich ein Geistesverwandter Diltheys — als "Aufmerksamkeit auf das Leben" bezeichnet hat.23
Wird aber damit zugleich jene "Totalität des Geistes und der Universalgeschichte" behauptet, in welcher das "Leben selbst" sich im Medium der Selbstlebensbeschreibung am Ende auf sein eigenes Bedingungsgefüge besinnt, dann gerät das Individuum allerdings auch hier in Gefahr, in eine bloße Funktionärsrolle abzurutschen — in eine Rolle, die nicht nur metaphysisch belastet wirkt, sondern geradezu das Gegenteil dessen besagt, was im Gegenwartsdiskurs als Pointe einer 'Geschichte als Erinnerung' gilt. Oder anders gefragt: Wirft das in der Erinnerung beschriebene Leben des Individuums nur eine Art Schlaglicht auf jenes
21 Assmann, 1995, S. 52.
22 Vgl. Wischermann, 1996, S. 82ff.
23 Bergson, 1982, S. 169.
Milieu, in welchem es sich abspielt; ist sonach seine Erzählung in Wahrheit eine Erzählung des Lebens (gen. subj.) selbst? Oder wirken nicht vielmehr spezifische Erzählschemata so maßgebend auf die Elaboration von Erinnerungen ein, dass die Ordnung des Geschehens in erster Linie (und im engeren Sinne) als eine Funktion des Erzählens und nicht (im weitesten Sinne) als eine des universellen Lebensgeschehens selbst zu verstehen ist?24
Die aktuelle Debatte sieht hierin den Kern der Problematik der lebensphilosophischen Konzepte Diltheys, aber auch Simmels oder Bergsons: dass jene Deutung der historischen Erzählung, die "durch das Leben selbst" erzählt wird, zur spekulativen Aufhebung der Differenz zwischen der individuellen Intimität des Verstehens und der Anonymität kollektiver Normen führt, um dergestalt und sozusagen im Hauruckverfahren den geisteswissenschaftlichen Erkenntnisanspruch zu sichern. Damit, so die Kritik, werde freilich die Differenz zwischen Bekanntheit und Fremdheit als maßgeblicher Faktor des Erkennens gerade unterlaufen.25
Aber ist das tatsächlich so? Wird mit dem geschichtstheoretisch motivierten Erinnerungskonzept Diltheys die Einheitsintention der hermeneutischen Vernunft (womöglich ganz im Sinne von Heuß) dergestalt favorisiert, dass am Ende die Differenz zwischen Individual- und Kollektivgeschichte in einer großen Erzählung "des Lebens selbst" immer schon aufgehoben scheint?26
Für die Prüfung dieser Frage soll davon ausgegangen werden, dass in unserem 'Testfall', in der Autobiographie, zumeist eine Darstellung der Welt als geschlossene und beherrschbare historische Sinngestalt vorliegt, und dass eine solche Antizipation von Kontinuität und Einheit als notwendige Voraussetzung dafür verstanden werden darf, dass Geschichte überhaupt als ein Gegenstand thematisch werden kann.27 Dann ergeben sich folgende Beobachtungen:
Ein erstes und wichtiges Indiz dafür, dass Dilthey keineswegs für eine Aufhebung der Differenz zwischen Individual- und Kollektivgeschichte plädieren möchte, liefert der Charakter der Erinnerung als eines schematisch gebundenen Rekonstruktionsaktes. Gemeint ist der Umstand, dass die Rekonstruktion der Geschichte in der Arbeit der Erinnerung stets in einer Erzählung terminiert. Diese
24 Vgl. Markus, 2002, S. 162f.
25 Vgl. Patzel-Mattern, 2002, S. 155f.
26 Die Frage wird natürlich nur empfindlich, wenn wir das Autobiographiemodell mit geschichtswissenschaftlichen Intentionen zusammen lesen, wenn wir demnach die Arbeit des Historikers analog zur Arbeit an der eigenen Lebensbeschreibung verstehen wollen. Eben das aber ist die These auch der Vertreter einer Geschichtsschreibung als Erinnerung. Vgl. Markus, 2002, S. 182.
27 Dass eine solche Einheits- oder Kontinuitätsthese in jedem Einzelfall natürlich nur eine These bleibt, steht außer Frage (vgl. auch unten Fn. 39 zu Husserls Auffassung über die Möglichkeit einer Rekonstruktion der individuellen Lebensgeschichte). Das sollte aber wohl nur für denjenigen Anlass sein, ihre geschichtskonstitu-tive Kraft zu bezweifeln, der der Meinung ist, eine derart "individuelle" Geschichte müsse sich letztinstanzlich immer am 'Geschehen selbst, wie es eben geschehen ist', messen lassen.
bedient sich eines in der Erfahrung angesammelten Sets von universal anwendbaren Schemata, die die Richtung der Erzählung steuern. Die sogenannte "allgemeine Besonderheit"28 der individuell erinnerten Geschichte gewinnt ihr Profil also nur durch ihre Referenz auf ein allgemeines Erzählschema, das ebenso als Maßstab der Erinnerung wie als narrativer Strukturhintergrund fungiert. Hier besteht offensichtlich eine Analogie zu dem, was man in der Geschichtsschreibung als "individuellen Begriff" kennt, dessen Allgemeinheit eine je anschaulich bedingte bleibt ("Drittes Reich", "Europa" etc.). Ent-Spezialisierung und Vereinfachung unter einer solch leitenden Anschauung sind Kennzeichen entsprechender Geschichtserzählungen. — Auch Heuß hat darum im Zusammenhang mit der Einsicht in die Notwendigkeit der Anschauungsbindung des historischen Begriffs auf die vergegenwärtigende Leistung der individuellen Erinnerung verwiesen, die eine solche Anschaulichkeit erst zu gewährleisten vermöge29 — wenngleich, wie wir unten sehen werden, noch andere Auffassungsleistungen, namentlich die anschauliche Phantasie, diesbezüglich eine wichtige Rolle spielen müssen.
Dem an dieser Stelle wieder einschlägigen Einwand, derartige Rekonstruktionen seien wegen ihrer privaten Beliebigkeit historisch wertlos, sie lieferten eben bloß individuelle, aber nicht kollektivgeschichtlich belastbare Lesarten des Geschehens, ist bereits die alte (gestaltpsychologische) Erkenntnis entgegenzuhalten, dass Erinnerung nicht willkürlich konstruiert wird, sondern sich an dem in der ursprünglichen Erlebnissituation bereits sinnhaft Gestalteten orientiert.30 Die rekonstruktionsleitenden Schemata sind also keineswegs beliebig; sie haben bedingt allgemeinen Charakter. Nur deshalb können sie als Sinngestalten die Erlebnisvergangenheit mit der Erinnerungsgegenwart verbinden. Die Dominanz einer solchen Sinngestalt gegenüber möglichen Alternativen freilich, ihre explizite Auswahl also, ist dann den aktuellen Herausforderungen der je individuellen Zukunftsorientierung geschuldet. Sie variiert entsprechend.
Mit anderen Worten: Gerade die Konkurrenz der individuellen historischen Erzählungen führt zwar zur Notwendigkeit ihrer Vermittlung innerhalb einer gegenwärtigen Lebenswelt, führt somit zum Einfließen der Partialerzählung in den Gesamttext einer gesellschaftlich-historischen Konstellation — aber besagte Teilerzählung bleibt darin dennoch lebendig und wirksam. Analog zur Situation der von Ulrich Beck so bezeichneten biographisierten Gesellschaft,31 die sich über die individuell-verschiedenen, polyperspektivischen Lebenskonzepte ihrer Mitglieder konstituiert, impliziert dieses Konzept von 'Geschichte' ebenfalls die Auffächerung in individuell motivierte historische Textkonstrukte und
28 Bruner, 1998, S. 54ff.
29 Heuß, 1959, 76ff.
30 Vgl. Rosenthal, 1995, S. 72ff.
31 Beck, 1995.
Deutungshorizonte, die dann nicht zuletzt auch den Diskurs der Wissenschaft prägen. Die Vorstellung einer schlichten Einheit von Geschichte wird damit aber natürlich unterlaufen. — Um hier auf Dilthey zurückzukommen: Obgleich dessen gelegentliche Rede von der Universalgeschichte vielleicht Verdacht erregt, ist im Hinblick auf sein Verständnis des kulturellen Milieus als Möglichkeitsbedingung persönlicher Gestaltungskraft und die damit zugestandene Unabschließbarkeit des universalgeschichtlichen Zusammenhangs nicht zu erkennen, dass er die polyvarianten Einheiten der Individualgeschichten in einer letzten Einheit 'der' Geschichte wollte aufgehen lassen. Insofern scheint mir die vereinzelte Kritik auch mancher "Erinnerungshistoriker" hier zu kurz zu greifen.
Eine zweite interessante Beobachtung zum Verhältnis der Individualgeschichte zur Kollektivgeschichte im Zusammenhang mit autobiographischer Geschichtsschreibung ist die folgende: Wir kennen einen offenbar nicht willkürlich überschreitbaren Horizont der Selbstdarstellung, der durch den historisch dokumentierten Effekt der eigenen Handlung gekennzeichnet ist. Der objektive Anspruch der autobiographisch orientierten Erzählung wird ja damit gestützt, dass sich das individuelle Subjekt erst über seine eigenen Taten kennenlernt, deren Wirkungen eben Geschichte 'machen', indem sie Einfluss auf die Gestalt der Welt nehmen. Die Tat entlarvt den Täter, und wenn Geschichtsschreibung im Zeichen einer Zukunftsgestaltung aus den Quellen der Erinnerung steht, dann erweist sich die autobiographische Rekonstruktion als authentischste Form von Geschichte, weil sie nicht zuletzt deren ethische Dimension aufschließt — und eben damit auch Verzeihen und Vergessen im Sinne Ricreurs möglich wird. Dementsprechend wird dann aber das eingangs genannte Verdikt der kulturellen Gedächtnisforschung gegenüber dem Wert der individuellen Erinnerung erneut fraglich. Denn deren Einbindung in vorgängige Diskurse kann ja durchaus zugestanden werden, ohne dass deshalb autonome Akte der Sinnbejahung oder -verneinung bestritten werden müssen.
Eine dritte Beobachtung bezieht sich auf Diltheys Verständnis von Erinnerung als "Verinnerlichung". Erinnerung wird dabei nicht sokratisch als Weckung eines längst Bekannten verstanden, sondern im Gegenteil als Verinnerlichung von etwas, das nicht bereits zuvor "inne" war.32 Die Arbeit der Erinnerung bezieht sich somit auf ein Erlebnis, das seinerseits einen Sinngehalt aufweist, der nicht im Erlebnis selbst aufgeht, sondern der erlebnistranszendente Ansprüche stellt. Aber so wie dieser Sinngehalt eben das Korrelat eines Bewusstseinsvollzugs darstellt, also konstituierter Sinn ist, so verhält es sich auch mit dem in der Erinnerung rekonstruierten Sinn: Er geht nicht in der Erinnerung auf, sondern bleibt ihr wesentlich transzendent. Das Erinnerte ist in der Erinnerung eben nur als Abwesendes
32 Vgl. Haas, 1996, S. 31-54, bes. S. 48ff.
anwesend. Erinnerung bleibt sozusagen prinzipiell ungesättigt. Die Fremdheit, die die vermeintliche Einheitssehnsucht der erinnernden Rekonstruktion angeblich verfehlt, ist ihr darum selbst inhärent.
Natürlich ist das nicht originell, da schon für den ursprünglichen Erlebnisakt gilt, dass dessen Gehalt im Erleben über es hinausweist. Und doch ist die besagte Beobachtung hier wertvoll, denn sie weist auf eine geschichtskonstitutive Verlegenheit hin, die therapeutisch ausgesprochen fruchtbar sein kann — nämlich auf die prinzipielle Uneinholbarkeit der Geschichte als Erkenntnisgegenstand. Dass der Wunsch nach Überwindung dieser Verlegenheit stets wach bleibt und dennoch genauso beständig enttäuscht wird, ist für die Geschichtsarbeit gleichwohl kein Skandal, und zwar deshalb nicht, weil die erinnerungstechnisch defizitäre Darstellung mit ihren Vagheiten und Plausibilitätsmängeln immer schon narrativ ergänzt wird durch regelmäßige Bezugnahmen auf Formen öffentlichen Wissens und kultureller Normalitäten. Bereits unsere erste Bemerkung zum Charakter der Erinnerung als schematisch gebundener Rekonstruktion hatte das gezeigt.
Damit aber wären wir bei der vierten und letzten Beobachtung, die mit dem fiktiven Charakter der historischen Erzählung qua Erzählung zusammenhängt. Wenn die historische Wirklichkeit auf einem lebensweltlichen Zusammenhang von Deutungen und Sinngebungen basiert, die in primäre Erzählungen und Erinnerungen einfließen, dann eben deshalb, weil jedes fiktional berichtete Geschehen — und das ist in der Historiographie womöglich nicht anders als in der Literatur — eben aufgrund seiner Fiktionalität den Charakter des Historisch-Singulären verliert und auf diese Weise, zu einem bloß Besonderen geworden, doch im Schatten eines allgemeinen Sinns verbleibt. Angesichts dieser Diagnose gälte es nun eine doppelte Rolle der Fiktion zu prüfen: Erstens die Rolle der literarischen Fiktion im historischen Bericht, der zwar nichts Objektives in der Vergangenheit entspricht, der wir gleichwohl die Funktion einer magistra vitae zumuten. Und zweitens die Rolle der Fiktion innerhalb einer via Erinnerung konstituierten persönlichen Erlebnisgeschichte, auf die wir uns als Zeugen berufen, um jene erstgenannte Annahme zu legitimieren. Die Geschichtserzählung würde somit ihre Legitimation gleich auf zwei verschiedenen Fiktionsebenen gewinnen: Die Ebene der historiographischen Fiktion, die einen Gegenstand anschaulich beschreibt, den es tatsächlich nicht mehr gibt, weil er eben vergangen ist, basiert ihrerseits auf der Ebene der Erinnerungsfiktion. Deren Legitimationskraft gründet in der Autorität vermeintlicher Authentizität und bleibt dennoch seltsam paradox, da sie die authentische Anwesenheit eines Abwesenden behauptet.
Angesichts solcher Implikationen scheint mir die Sorge unbegründet, Dilthey et aliter hätten womöglich infolge ihrer Neigung zu hermeneutischer Konzilianz nur die Wahl gehabt, entweder den geschichtswissenschaftlichen Erkenntnisanspruch in einer mysteriösen kosmologischen Einfühlungsleistung des Lebens mit sich
selbst aufzuheben, oder aber die Möglichkeit historischer Erkenntnis gänzlich in Abrede zu stellen. Stattdessen ist eben der Versuch aufschlussreich, das Verstehen — in Anlehnung an ein Wort Simmels — hier als ein "Mehr-als-Verstehen" zu lesen, in welchem die stets mögliche Alternative den beharrlichen Stachel im Fleische der Deutungsharmonie darstellt, die Vielfalt also stets den dunklen Horizont der Einheit abgibt. Dass Dilthey diese Verhältnisse selbst nicht für philosophisch befriedigend halten mochte, mag zutreffen; dennoch könnte man der Meinung sein, dass gerade die explizite Orientierung am polyvalenten "Tatbestand" des menschlich-geschichtlichen Lebens Dilthey nach wie vor attraktiv macht.
So qualifiziert sich hier die Erinnerung als geschichtskonstitutiv also nach einem besonderen Muster, das an entsprechende Phänomenanalysen bei Ricreur und Bergson erinnert.33 Beide bestreiten zu Recht, die Erinnerung als Anstrengung im Sinne der Anamnesis sei so etwas wie die Wiederholung von Singularitäten des persönlichen Erlebens. In der von Bergson so genannten "Anstrengung des Erinnerns" tut sich vielmehr ein je bereits konstituiertes 'Allgemeines' auf — als Schema, als Gestalt, als Bedeutung, als individueller Begriff —, das als Maßstab der Rekonstruktion eines Ereignis- oder Lebenszusammenhangs fungiert. Das geschichtliche Milieu des Lebens, das solcherart erkundet werden kann, präsentiert sich dabei in einer Form historischer Fremdheit, die dem Akt der Erinnerung dennoch prinzipiell bekannt sein muss, da an sie im Erinnern herangeführt werden kann, ohne dass es jedoch je gelänge, die letzte Distanz aufzuheben. Individuelle Erinnerungsarbeit darf deshalb als Versuch steter Aneignung des historisch Uberindividuellen verstanden werden, wobei dessen Pointe jedoch nicht in der Erreichung des Ziels, sondern allein in der dazu notwendigen "Anstrengung" besteht. Erinnerung ist darum auch durch ihr stets waches Misstrauen gegen einen irgendwie überraschenden und womöglich 'außerordentlichen' historischen Sinn geprägt. Denn im Vollzug der Erinnerungsarbeit ist Geschichte, wie Dilthey sagt, eben immer schon "halb geschrieben", insofern ihr Zusammenhang ausschließlich im Bedeutungsmilieu des eigenen gelebten individuellen Lebens aufleuchten kann — aber doch nie restlos darin aufgeht.
Kommen wir nun mit Blick auf Dilthey auch noch einmal auf den Heuß'schen Konjunktiv zu sprechen: auf seine Hoffnung, wonach eine auf das Bewusstsein konzentrierte (künftige?) Erkenntnistheorie die Divergenz von Geschichte als Wissenschaft und Geschichte als Erinnerung zu überbrücken vermöchte. Solche Hoffnung könne ihre Zuversicht vor allem darauf stützen, dass das historische Bewusstsein — seiner Neigung zum Trotz, die Geschichte ins Präteritum abzuschieben — der Geschichte der jeweils eigenen Gegenwart nicht zu entgehen vermag. In Bezug auf die Gegenwartsgeschichte müsse das historische Bewusstsein
33 Bergson, 1928, S. 137-170.
je aktuell werden und wie jedes 'Bewusstsein-von ...' gegenständlich und zugleich selbstreferentiell agieren. Und deshalb heißt es weiter:
"Wenn geschichtliche Vergegenständlichung zur Selbstreflexion wird, hebt sie zwar nicht die Transzendierung, aber ihre Wirkung auf. Das Selbstbewußtsein holt den 'entfremdeten' Gegenstand in diesem Falle wieder zurück. Es mag dahingestellt bleiben, ob dies logisch ist oder der Zwang zu leben die Veranlassung bildet."34
Hätte Heuß nun im 19. nicht nur das historistische Jahrhundert gesehen, dem mit der Konjunktur der Geschichtswissenschaft zugleich der Sündenfall der Geschichtsentfremdung unterlaufen ist, so hätte er mit Dilthey in diesem selben Jahrhundert wohl auch einen Zeugen für eine solche Erkenntnistheorie finden können. Doch er hat das offenbar nicht erkannt, so dass er sogar noch 1959 behauptet, dass eine Erkenntnistheorie der historischen Forschung nach wie vor vermisst werde.35 Irritiert hat ihn an Diltheys Ansatz vielleicht auch dessen Radikalität. Denn im Versuch, den historischen Erkenntnisakt als Akt des Innewerdens eines lebendigen Bewusstseins zu verstehen, scheint er die von Heuß angesprochene, aber nicht entschiedene Alternative des Logischen zum Leben so grundsätzlich zu unterminieren, dass dabei die begriffliche Seite des historischen Selbstbewusstseins zugunsten der anschaulichen verloren zu gehen droht. Würde auf eine solche 'Arbeitsteilung' von Begriff und Anschauung aber tatsächlich verzichtet, so müsste wohl nicht nur der Historiker passen, sondern auch der Philosoph. Doch bedeutet es eben keineswegs einen Verzicht auf diese Unterscheidung, wenn es bei Dilthey heißt, Denken, also der Begriff, sei an Erlebtes und Gegebenes, also die Anschauung, "durch innere Nötigung gebunden" und trete deshalb, wie Heidegger es später verschärft zitiert, selbst als eine "Gestalt des Lebens" auf.36 Schließlich bilden Gestalten solcher Art in prominentester Form eben die Wissenschaften selbst; nicht zuletzt die objektivierende Geschichtswissenschaft. Deren Verhältnisbestimmung zur anschaulichen Erinnerung aber ist darum gerade kein Verabschiedungs-, sondern ein veritabler Begründungsversuch.
4. Erinnerung, Verbildlichung und Phantasie
Dass das Verhältnis von historischem Begriff und historischer Anschauung kon-stitutiv für die Geschichte sein müsse und dass zu diesem Verhältnis der Erinnerungsakt maßgeblich beiträgt, ist deshalb auch nicht allein aus Sicht der Lebensphilosophie zentral, sondern kann ebenso phänomenologisch zur Einsicht gebracht werden. Vielleicht gelingt es hier sogar besser, weil dafür kein opaker
34 Ibid. 74, Hvh. KHL. - Vgl. auch S. 39ff.
35 Ibid., S. 8.
36 Dilthey, 1958, S. 7; vgl. Heidegger, 1993, S. 156.
Lebensbegriff in Anschlag gebracht werden muss. Ein Beitrag der Phänomeno-logie verspricht vor allem dort hilfreich zu sein, wo man die Beobachtung macht, dass und wie besagte Universalien der historischen Darstellung maßgeblich in der narrativen Fiktion wirksam werden. Die Frage war darum bereits gestellt worden: Welche legitimatorische Rolle spielt die Fiktion für den Geltungsanspruch der historischen Erzählung? Oder jetzt etwas anders: Wie wirken hier Erinnerung und Phantasie zusammen?
Bereits Husserl diskutiert dieses Verhältnis u.a. im Zusammenhang mit der Problematik der schon angesprochenen Beziehung zwischen individueller und kollektiver Erinnerung. Analog zur Rekonstruktion der persönlichen Geschichte durch die Erinnerung spricht er gelegentlich zwar von der Möglichkeit, "Geschichte als methodische 'Erinnerung' der Menschheit" zu schreiben.37 Aber es folgt sogleich die Einschränkung, es könne sich dabei nur "sozusagen" um eine Art "Gemeinschaftserinnerung" handeln.38 Denn historisches Verständnis von überkommenen Zeugnissen, also von Dokumenten oder "Denkmalen", könne keine Erinnerung in dem Sinne sein, dass sie "in sich selbst und in der rekonstruierbaren Erinnerungskontinuität bis zum wahrnehmungsmäßigen Jetzt einen Limes der Anschauung als Selbsterfassung des Vergangenen" aufwiese. Husserl beschreibt hier in nuce den Bewährungsgang der erinnernden Vergegenwärtigung,39 den die historische Anschauung eben nicht einlöst, weil sie ihrem Wesen nach kein originär Gegebenes darstellt. Es handelt sich vielmehr um eine Vergegenwärtigung, die eher den Charakter einer Verbildlichung hat. Sie wird von Husserl zwar als ein "Analogon zur Erinnerung" vorgestellt, kann aber nie zu einer wirklichen Erinnerung werden — eben weil es sich nicht um eine Vergangenheit handelt, die zur je eigenen, konkreten Erinnerungsgegenwart gehört.40
Die hier notwendige Verbildlichung bedient sich daher ergänzend der Phantasie. Die historische Erinnerung bewegt sich in Vorstellungen, die ihrerseits ein Milieu von "Nichtgegenwärtigem" erschließen. Aber dieses Nichtgegenwärtige wird dabei eben nicht anschaulich erinnert, sondern geht in eine Phantasievorstellung ein, die ein Bild des historischen Gegenstandes im Modus einer 'Quasi-Präsenz'
37 Husserl, 1993, S. 310.
38 Husserl, 1976a, S. 213; vgl. Husserl, 1959, S. 236.
39 Vgl. Husserl, 1976b, S. 326ff. — Selbstverständlich ist gar nicht ausgemacht, ob dieser Optimismus kontinuierlicher Bewährung der individuellen Lebenserinnerung angebracht ist, oder ob die Rekonstruktion des eigenen Lebens nicht prinzipiell "vage" bleibt, wie Husserl gelegentlich selber einräumt (z.B. Husserl, 1973, S. 418f). Aber diese Problematik wird im vorliegenden Zusammenhang ohnehin nicht wirksam, da die historische Erinnerung sich an der individuellen offenbar nicht unmittelbar ausrichten kann. — Vgl. zur ausführlichen Kritik an den Konsequenzen, die dieser Kontinuitätsgedanke bei Husserl insbesondere für die Phänomenologie der Fremderfahrung hat: Tengelyi, 1998.
40 Husserl, 1993, S. 54.
entwirft.41 Historische Veranschaulichung trägt somit den Charakter einer Vergegenwärtigung der bildhaften Vorstellung eines Nichtgegenwärtigen. Zwar bleibt dabei berücksichtigt, dass es sich um Bilder einer vergangenen Wirklichkeit handeln soll, dass also das Bildbewusstsein "ein setzendes" ist.42 Aber es handelt sich eben um ein Bildbewusstsein innerhalb einer Vergegenwärtigung (Phantasie), und so ist diese Setzung nicht unmittelbar positionaler Art, das Bildbewusstsein als perzipierendes Erlebnis ist nur ein "quasi-Perzipieren".43 Die in der Bildvorstellung liegende Vergangenheitsanschauung ist sonach nur eine Quasi-Anschauung mit "Als-ob-Charakter". Sie könnte das Recht der Setzung ihres Gegenstandes als seiend (oder besser: gewesen seiend) nur durch Ubergang in einen wirklichen Erfahrungszusammenhang ausweisen, was jedoch ausgeschlossen ist, da jeder "Erfahrungszusammenhang", auf den hier verwiesen werden könnte, seinerseits Produkt der reproduktiven Vergegenwärtigung wäre und daher ebenfalls den Index der Quasi-Positionalität trüge.
Im Zusammenhang mit dem Problem der Anschauungsbindung der historischen Rekonstruktion konnotiert auch Heuß, wenngleich nur beiläufig, die Erinnerung unmittelbar mit der Phantasie.44 Phänomenologisch kann diesem Hinweis also nachgegangen werden. Dabei zeigt sich, dass die Phantasie als Neutralisationsmodifikation von Wirklichkeitserfahrung Perspektiven eröffnet, die es offenbar erlauben, über den okkasionell gesetzten Horizont praktischer Erfahrungsmöglichkeiten hinaus eine Quasi-Wirklichkeit zu fingieren, die nicht an die Konditionen der "Tatsachenwelt" gebunden ist. Mit ihr eröffnet sich also die Möglichkeit einer fiktiven Überschreitung der eigenen Gegenwartswelt auf historische Lebensumwelten hin. Die historische Veranschaulichung bewegt sich sonach im Reich der Quasi-Positionen. Aber es bleiben nach wie vor die Quasi-Positionen des Erzählers. Eine Gewähr, dass sie deckungsgleich wären mit den Positionalitäten des historischen Sujets, gibt es offenbar nicht.
Dennoch — angesichts der sekundären thematischen Funktion, die eine quasi-posi-tionale Vergegenwärtigung historischer Welten hier annehmen soll, muss sich das Spiel der Phantasie von vornherein bestimmten Regeln unterwerfen. Dazu gehört wie gesehen erstens, dass die historische Vergegenwärtigung zweistufig bleibt, d.h. als Vergegenwärtigung einer verbildlichenden Darstellung der historischen Welt fungiert, damit man sich der Uneigentlichkeit der vergegenwärtigten Perzeption bewusst bleibt, und um zu vermeiden, passiv in den fiktiven Zusammenhängen
41 Husserl, 1980, S. 153: "Ich mache mir ein Bild von Cäsar etc. Das ist keine eigentliche Vorstellung von Cäsar, kein direktes Gegenstandsbewusstsein von ihm als einem Nichtgegenwärtigen. Keine 'Erinnerung' von ihm. Sondern es ist eine Phantasievorstellung (Vorstellung eines Nichtgegenwärtigen), die einen Gegenstand (einen nichtgegenwärtigen) vorstellig macht, der seinerseits Cäsar 'vorstellt', ein Bild von ihm entwirft."
42 Ibid., S. 448.
43 Ibid., S. 469.
44 Erinnerung sei "eigenständige plastische historische Phantasie" (Heuß, 1959, S. 77).
aufzugehen (sich den Phantasien zu ,überlassen').45 Und zweitens kann die historische Vergegenwärtigung auch im Interesse ihrer sekundären thematischen Funktion (der Feststellung historischer Welt-Vorstellungen als den Motivationskontexten historisch subjektiven Seins und Wirkens) sich nicht in reiner Fiktion verlieren, weil sie sich am allgemein geltenden Horizont kultureller Bedeutsamkeiten der historischen Welt — eben den Allgemeinheiten im bereits besprochenen, die Narrative beherrschenden Sinne — zu orientieren hat. Gebunden wird also die historische Phantasie nicht zuletzt durch eben jene Zeugnisse, die uns in Erzählungen, Berichten, Beschreibungen bildhafte Ansichten der historischen Welt mit ihren Bedeutsamkeitsstrukturen liefern. Die historische Vergegenwärtigung findet darin gewissermaßen die Farbskala und das Konfigurationsmuster der ihrerseits anschaulichen historischen Darstellungen vorgegeben. Das Vertrauen auf die Seriosität des Zeugnisses und damit auf die Seriosität des zugrundeliegenden Aktes bezeugender Erinnerung bleibt hier allerdings Voraussetzung.
Dass von der Phantasie aus dennoch "kein Weg in die Wirklichkeit" zurückführt, bleibt freilich noch immer richtig.46 Ein solcher Weg ist aber auch gar nicht gefordert. Die historische Phantasie kann eine weit weniger mysteriöse Funktion erfüllen. Daraufweist etwa Max Weber hin, wenn er ihr eine wichtige Rolle für die Urteilsbildung über die Bedeutsamkeit eines historischen Sachverhalts zuspricht. Das historische Urteil stützt sich ihm zufolge einerseits auf "Tatsachenwissen" zu einer historischen Konstellation, auf das sogenannte "ontologische" Wissen, andererseits auf "nomologisches Wissen" über regelhaftes Verhalten von Menschen in gegebenen Situationen. Die "'Phantasie' [hat] auf dieses 'ontologische' Wissen unser, aus der eigenen Lebenspraxis und der Kenntnis von dem Verhalten anderer geschöpftes, 'nomologisches' Erfahrungswissen anzuwenden."47
Webers technische Unterscheidung hilft womöglich, den Ort der Phantasie im Konstitutionsgeschäft von Geschichte genauer zu bestimmen. Phantasie und historische Wirklichkeit bleiben einander zwar prinzipiell fremd, wohl aber trägt jene dazu bei, die Brücke zwischen dem Bewusstsein der je eigenen Gegenwart und der ins Präteritum verschobenen Geschichte zu schlagen, indem sie Wissensformen im Modus des Als-ob miteinander zu konfundieren vermag, die faktisch so nie miteinander konfundiert waren. Das historische Bewusstsein, das als reales Subjekt lokalisiert ist, das auch in der Gestalt des Historikers stets "eine geistige Zuständlichkeit mit einem bestimmten Weltaspekt" darstellt,48 kann sich dieser Identität und Ausgangssituation nur im Medium der eigenen Erinnerung vergewissern. Dieser Vergewisserungsakt vermittelt ihm auch jenes "nomologische
45 Vgl. Husserl, 1980, S. 448.
46 Husserl, 1973, S. 251, Fn. 1.
47 Weber, 1973, S. 276f.
48 Vgl. Heuß, 1959, S. 73.
Wissen" um Motivationsstruktur, Interessenlage, mittelfristig stabile Verhal-tensregularitäten und Entscheidungsnormalitäten, die im Horizont einer je historisch orientierten Gegenwart den Blick in die kollektive Vergangenheit immer schon justiert haben. — Unter solchen Konditionen trifft dann aber dieser Blick auf die in literarischen und bildlichen Darstellungen bezeugten anschaulichen Abläufe des vergangenen Geschehens. Dessen Vergegenwärtigung gelingt freilich nur so gut, als wir uns dabei erlauben dürfen, jenes nomologische Wissen explikativ zu verwenden, also so zu tun, als ob ein historischer Protagonist sich anthropologischen Standards gemäß verhalten hätte, und zwar genau solchen, die wir einander auch in einer historischen Gegenwart zuzuschreiben bereit sind. Mit anderen Worten: Wir unterstellen Regeln des Verhaltens und damit des Geschehens, die wir den stabilisierenden Fiktionen des reflexiven Selbst entliehen haben, in die es sich in seiner anschaulich gegebenen Gegenwart immer schon verstrickt findet. Und die daraus resultierende Geschichte, die gar nicht die unsere ist, von der wir aber so tun müssen, als ob sie unsere würde sein können, erzählen wir dann. Weil wir aber über das, was geschehen ist, so berichten, wie es aufgrund unserer Annahmen hätte geschehen können, wird dabei auch der noch von Aristoteles bis Kant postulierte Unterschied zwischen dem Geschichtsschreiber und dem Dichter nahezu hinfällig. Und weil schließlich weder das ontologische Wissen dasselbe bleibt — es hat sich mit unserer Erzählung schon wieder verwandelt —, noch jener nomologische Standard tatsächlich mehr als ein Ausdruck des bloß mittelfristig stabilen Selbstverständnisses eines Gegenwartssubjekts ist, erzählen wir das vermeintlich Selbe auch immer wieder neu.
Mit diesem Plädoyer für eine notwendig polyperspektivisch konstituierte Geschichte geht nicht zuletzt Skepsis gegenüber anthropologischen Radikalen einher, die vielleicht auch einen Wesenszug unserer biographisierten Gesellschaft kennzeichnet: Die Bereitschaft zur ständigen Neufassung der eigenen Lebensgeschichte entspricht wohl der Erkenntnis, dass wir noch immer keinen Anlass haben zu glauben, dass die Gründe für das ehemals49 vorgetragene Bedauern über den Mangel einer einheitlichen Idee vom Menschen mittlerweile hinfällig geworden wären. Nur dass wir uns inzwischen entschlossen haben, dieses 'Schicksal' nicht mehr bloß zu bedauern oder es überwinden zu wollen, sondern es stattdessen kritisch zu kultivieren.
Zusammenfassung
Der Beitrag greift mit der Frage nach dem Verhältnis von individueller Erinnerung und kollektiver Geschichte eine aktuelle Diskussion auf. Dabei wird eine konstitutive Rolle der Erinnerung in der Geschichte behauptet. Diese These wird anhand der Frage nach dem Wert der Autobiographie als historischer Quelle geprüft. Dabei erweist sich das
49 Vgl. z.B. Scheler, 1976, S. 11.
Verhältnis von Erinnerung und Erzählung als Indiz für den Zusammenhang mit der kollektiven Geschichte. Vier Beobachtungen liefern dazu die Argumente. Sie betreffen (i) die Anschauungsgebundenheit der historischen Erzählung, (ii) das Verhältnis von historischem Akteur und seinen Taten, (iii) die Transzendenz der Erinnerung sowie (iv) die Rolle der Fiktion in der historischen Erzählung. Im Zusammenhang mit der letzten Beobachtung wird schließlich die Frage nach der Rolle der Phantasie in der historischen Erinnerung vertieft.
Schlüsselwörter: Autobiographie, Erinnerung, Gedächtnis, Geschichte, Geschichtswissenschaft, Leben, Phantasie, Verbildlichung.
History between Memory and Fantasy
Summary
This article refers on a recent discussion with the question of the relationship between individual memory and collective history. It is claimed a constitutive role of memory in history. This thesis is examined on the basis of the question according to the value of the autobiography as a historical source. It is shown here that a reference to the collective history is already guaranteed in the relationship between memory and narrative. Four observations shall justify the arguments, they concern (i) the role of intuition in historical narrative, (ii) the relationship between historical actor and his deeds, (iii) the transcendence of memory, and (iv) the role of fiction in the historical narrative. The last observation leads at the end on the role of fantasy in the historical memory. Keywords: Autobiography, fantasy, history, life, memory, pictorialization, recollection, science of history.
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Karl-Heinz Lembeck, geb. 1955, Professor Dr., Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Institut für Philosophie. Arbeitsschwerpunkte: Erkenntnistheorie, Wissenschaftsphilosophie, Geschichtsphilosophie, 19. und 20. Jahrhundert: Neukantianismus und Phänomenologie.
Adresse: Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Institut für Philosophie, Lehrstuhl I, Josef-Stangl-Platz 2,
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