German Life and Letters 55:3 July 2002 0016-8777
MISSVERSTÄNDNISSE, ROLLENSPIELE, DOUBLE BINDS: KOMMUNIKATION UND BEWUSSTSEIN IM WERK BIRGIT VANDERBEKES
Matthias Uecker
abstract
Abweichend von der dominierenden Strategie der Literaturkritik, die das Werk Birgit Vanderbekes in erster Linie auf seine soziologische Reprasentativitat fUr Entwicklungen der deutschen Gesellschaft seit den fUnfziger Jahren untersucht hat, konzentriert dieser Aufsatz sich auf die Kommunikationsverhaltnisse in den Erzahlungen Vanderbekes. Gezeigt wird, dass sowohl der spezifische Stil der Erzahlungen als auch ihr thematischer Zusammenhang auf dem Interesse der Autorin an paradoxen Kommunikationsverhaltnissen und den Problemen ihrer literarischen Darstellung basieren. Als Fluchtpunkt der literarischen Entwicklung Vanderbekes erscheint schließlich der selbstreferentielle Charakter ihrer Texte, die in zunehmendem Maße die eigene literarische Konstruktion thematisieren.
1. DIE UNVERMEIDBARKEIT VON MISSVERSTANDNISSEN
In Birgit Vanderbekes jüngster Erzählung, abgehängt, findet sich eine Passage, in der die Erzahlerin, eine Autorin, über die Probleme nachdenkt, die sich mit dem Erfolg ihrer Bücher verbinden:
Dann passierte dieses Mißverstandnis, dieser Irrtum mit dem Erfolg von 'Als ob' und spater der mit 'Sphinx', und natürlich haben solche Irrtümer trotz allem sehr erfreuliche Folgen [. . .], aber eben nicht nur erfreuliche, weil offensichtlich sehr viele Leute sich falsche Vorstellungen machen. Im Grunde ist ein Mißverstandnis ja nichts anderes, als daß jemand denkt, er hat etwas über einen blauen Elefanten gelesen, wahrend er in Wirklichkeit etwas über ein grünes Nilpferd gelesen hat. (a, S.25)1
Solche Missverstandnisse, die sich aus unterschiedlichen Wahrnehmungen und Erwartungen von Kommunikationsteilnehmern ergeben, treten in Vanderbekes Prosa ziemlich regelmaßig auf, ja man kann sagen, dass sie zu den erwartbaren Basiselementen fast aller Kommunikationsprozesse gehören, die in ihren Texten geschildert werden.
Darüber hinaus aber scheint die Autorin hier anzudeuten, dass auch die literarische Kommunikation, also die Rezeption ihrer Erzahlungen, immer wieder Fehldeutungen hervorbringt. Auch wenn es riskant ist, eine
1 Alle Zitate aus den Texten Birgit Vanderbekes werden durch die folgenden Siglen belegt:
a = abgehängt, Frankfurt a.M. 2001; A = Alberta empfängt einen Liebhaber, Berlin 1997; FT = Fehlende Teile, Frankfurt a.M.1998; FZ = Friedliche Zeiten, Frankfurt a.M. 2000; GG = Gut genug, Hamburg 1993; Isw = Ich sehe was, was du nicht siehst, Berlin 1999; IwM = Ich will meinen Mord, Reinbek 1998; M = Das Muschelessen, Berlin 1990.
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solche Passage umstandslos als programmatische Aussage der Autorin zu lesen und sie als deren explizite Warnung an die Adresse ihrer Leser zu interpretieren, ist es vielleicht nicht ganz nutzlos, vor dem Hintergrund solcher Überlegungen die bisherige Rezeption von Birgit Vanderbekes Büchern daraufhin durchzusehen, wo sich mögliche Irrtümer und Missverständnisse eingeschlichen haben konnten und was die professionellen Leser dabei vielleicht übersehen haben. Das scheint um so nutzlicher, als sich in der Literaturkritik mittlerweile eine fast schon stereotype Wahrnehmung von Vanderbekes Texten etabliert hat, die jedes neue Buch in ein ziemlich festes Raster von Erwartungen einordnet, dabei aber die Texte selbst gelegentlich kaum noch wahrnimmt.
Ihren mittlerweile unumstrittenen Erfolg freilich verdankt Birgit Van-derbeke offenbar einer Reihe leicht identifizierbarer Qualitäten. Die stetige Produktion von immer ahnlich langen - oder kurzen - Erzahlungen hat die Autorin nach stockenden Anfangen im Bewußtsein von Literaturkritik und Lesepublikum gehalten und ihr die Aufmerksamkeit des Betriebs gesichert. Ein praziser, zwischen Leichtigkeit, Lakonie und Sarkasmus wechselnder Stil etablierte einen wiedererkennbaren und durchaus eingangigen 'Vanderbeke-Sound'. Die Darstellung von Familienkonflikten und erotischen Verwirrungen aus weiblicher Perspektive erlaubte ihre Subsumierung unter die Kategorie 'Frauenliteratur', wahrend präzise Bezüge zur (west)deutschen Gesellschaft der sechziger bis achtziger Jahre den Erzahlungen einen realistisch-gesellschaftskritischen Gehalt gaben, in dem die Leser eigene Erfahrungen wiedererkennen konnten.2
Probleme bereitet allerdings gerade die immer wieder behauptete 'Repräsentativst' von Vanderbekes Werk fur die Entwicklung der Bundesrepublik.3 Man mag immerhin die neurotisch-autoritären Familienver-haltnisse, die Das Muschelessen und Friedliche Zeiten schildern, fur 'typische' Verdichtungen aufstiegsorientierter kleinbürgerlicher Schichten in den sechziger und siebziger Jahren halten, auch wenn die in diesen Texten agierenden Familien sich wegen ihrer Herkunft aus der DDR selbst für fremd und auffallig halten und daher in besonderem Maße zu Uberanpassung an angenommene Normen der Gesellschaft und gleichzeitig zur geradezu klaustrophobischen Abschottung von der fremden Außenwelt neigen. Auch die Teenager Alberta und Nadan, die in Alberta empfängt einen Liebhaber in der Protestkultur der frühen siebziger Jahre aufwachsen, und die ratlosen Eltern in Gut genug, die in den achtziger Jahren aus dieser Protestkultur herauswachsen, mogen eine gewisse ReprasentativSt beanspruchen konnen, insofern sie zwar sozial eher randständig sind, dennoch aber sprachliche und gedankliche Versatzstücke der jeweiligen Perioden
2 Vgl. zu diesen Kategorisierungen exemplarisch Thedel von Wallmoden, 'Birgit Vanderbeke', Kritisches Lexikon zur Gegenwartsliteratur, 64. Nachlieferung, 3/2000, S.2-4. Eine Auswahl von (überwiegend positiven) Rezeptionszeügnissen versammelt Richard Wagner (Hg.), 'Ich hatte ein bißchen Krafi drüber.' Zum Werk von Birgit Vanderbeke, Frankfurt a.M. 2001.
3 Vgl. Marlies Gerhardt, 'Lila ist eine andere', in Wagner (Hg.), S.97; Richard Wagner, 'Laudatio auf Birgit Vanderbeke', ebd., S.305.
transportieren. Schwieriger wird eine solche Zuordnung in den offensichtlich intertextuellen Erzahlungen Fehlende Teile und Ich will meinen Mord, die geradezu demonstrativ gesellschaftliche Realität als Spielmaterial einsetzen, das kaum noch Anspruch auf Repräsentativität erheben darf. Wenn Vanderbekes Erzahlungen schließlich in der Jetztzeit ankommen und sich auf die Perspektive einer von Berlin nach Sudfrankreich übergesiedelten Schriftstellerin konzentrieren, entfallt - allem Gegenwartsbezug in erzahlerischen Details zum Trotz - eine glaubwürdige Repräsentationsbeziehung zwischen dem Milieu der Erzahlerin und der bundesdeutschen Wirklichkeit. Diese wird zwar noch zum Gegenstand rasonier-ender Betrachtungen der Erzahlerin, nicht aber zum integrativen Thema der Erzahlung.
Diese Entwicklung mag einer der Grunde dafur sein, warum die letzten, beim Publikum besonders erfolgreichen Erzahlungen Vanderbekes in der Kritik durchaus gemischte Reaktionen ausgelost haben. Eine verbreitete Unzufriedenheit artikuliert Thedel von Wallmoden am deutlichsten, wenn er erklart, die Autorin sei in ihren jüngsten Texten 'aus der Zeit und aus der Gesellschaft emigriert' und habe 'endgültig Abschied von ihren früheren Themen' genommen.4
Weder sollen derartige Entwicklungen und thematische Veränderungen hier rundweg geleugnet, noch die Beurteilungsmaßstäbe, die der zitierten Kritik zugrunde liegen, hinterfragt werden. Wenn allerdings für einen wesentlichen Teil von Vanderbekes Texten die Frage nach der repräsentativen Darstellung gesellschaftlicher Realitat offenbar in zunehmendem Maße als unergiebig angesehen wird, dann besteht vielleicht Anlass, nach anderen Fragen zu suchen, die man an Vanderbekes Texte stellen kann. Solche Fragen sollen hier probeweise dem eingangs präsentierten Zitat entnommen werden. Ausgehend von den nun schon mehrfach umspielten Missverstandnissen zielen sie auf die Kommunikationsverhaltnisse, die Vanderbekes Texte darstellen, und auf die Kommunikationsformen, die sie dazu benutzen.
2. SCHWIERIGKEITEN DER KOMMUNIKATION
Eines der charakteristischen Elemente von Birgit Vanderbekes Erzahlungen ist ihr Mangel an nacherzahlbarer Handlung. Es passiert nie sehr viel in ihren Büchern, deren Handlungskern sich meist in zwei Satzen zusammenfassen lasst. Und das wenige, was passiert, wirkt in solchen Zusammenfassungen oft banal und wenig bemerkenswert.5 Der eigentümliche Reiz von Vanderbekes Büchern wird erst verstandlicher, wenn man sich nicht den Handlungen, sondern den Kommunikationsverhaltnissen zuwendet, die in ihnen beschrieben werden.
4 Wallmoden, S.6-7.
5 Vgl. Heinz-Lüdwig Arnold, 'Birgit Vanderbekes Erzahlen', in Wagner (Hg.), S.83f.
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Vanderbekes erste Erzählung, Das Muschelessen, etablierte paradigmatisch eine der Kommunikationsformen, um die ihre Bücher immer wieder zentriert sind: Eine mittelstandische, aufstiegsorientierte Kleinfamilie trifft sich zum Abendessen - genauer: sie wartet vergeblich auf dessen Beginn, weil der Vater, dessen Beförderung eigentlich gefeiert werden sollte, nicht nach Hause kommt. Das gemeinsame Warten stimuliert Erinnerungen daran, wie die Familie normalerweise funktioniert, und rebellische Ideen darüber, wie diese Normalitat aufzuheben sei. Charakteristisch fur die Kommunikationsverhaltnisse in der Familie sind die starre Rollenverteilung und die Verfestigung von Verhaltensmustern, die unablassig und zwanghaft wiederholt werden. Vor allem die Kontrolle des autoritären Vaters wird taglich neu bekräftigt durch demütigende Verhor-, Gestandnis-und Bestrafungsrituale.
Die starren Verhaltensregeln und ihre autoritare Durchsetzung verdecken allerdings eine fundamentale Unsicherheit: Die Erwartungen des Vaters zu erfullen ist namlich 'gewiß nicht leicht [...], weil die Vorstellungen, die mein Vater von einer richtigen Familie gehabt hat, zwar hochst präzise waren, aber zugleich auf undurchschaubare Weise nicht vorherzuberechnen, weil keiner von uns [...] die Logik begriffen hat' (M, S.26).
Tatsachlich kann der Vater nie wirklich zufriedengestellt werden - seine Famile erfullt allenfalls die 'notwendigen', aber niemals alle 'hinreichenden' Bedingungen fur seine Zufriedenheit (M, S.51) und lebt daher in dauernder Angst. Die Unbestimmtheit und Willkür, die mit starrer Verhaltensregulierung einhergeht, drückt sich auch in den Fragen aus, mit denen der Vater immer neu das Einverstandnis der Familie mit seiner nie ganz begriffenen Definitionsmacht bekräftigen laßt: In den Formeln 'Ist das klar', 'habe ich mich deutlich ausgedrückt', 'haben wir uns verstanden' fordert er die Zustimmung der Familie zu Vorschriften, 'und jeder hat sich beeilt zu sagen, ja' (M, S.102). Was genau der Vater meint, bleibt aber immer unklar genug, um die anderen Familienmitglieder in permanenter Furcht zu halten, sie konnten das erzwungene Einver-standnis unabsichtlich verletzen - und tatsachlich sind die Abweichung vom vaterlichen Willen und die folgende Bestrafung unvermeidlich.
Wahrend die rigide Herrschaft des Vaters sich schon bei kurzzeitiger Abwesenheit sofort auflost und die Familie 'verwildern' (M, S.17) und aufsassig werden laßt, sind die weniger gewaltsamen, dafür aber ahnlich neurotischen Verhaltnisse in der Famile aus Friedliche Zeiten durch starkere emotionale Bindungen abgesichert und kompliziert. Aufsassigkeit oder Ungehorsam gegen die in diesem Fall kontrollierende Mutter resultieren namlich darin, daß diese demonstrativ ihre Verletztheit vorführt und schon bei kleinsten Anlassen damit droht, schwer zu erkranken, jung zu sterben oder sich sogar das Leben zu nehmen.
Es war einer der Lieblingssatze unserer Mutter: Kinder, bestimmt werde ich
mal nicht alt, ich sterbe bestimmt mal jung. [. . .] Das war es, was die Angele© Blackwell Publishers Ltd 2002.
genheiten in dieser Wohnung sehr schwierig machte: Keiner von uns mochte die Vorstellung, daß die Mutter, weil wir keine geregelte Verdauung oder andere schlimme Unregelmaßigkeiten hatten, vor Sorgen und Schlaflosigkeit krank würde, sich ins Bett legte und elendiglich starb; und noch schlimmer war die Vorstellung, sie würde dadurch von ihrer Lebensmüdigkeit wieder so überfallen, daß sie sich in ihr Auto setzte, um damit gegen eine Wand oder einen Baum oder in einen Fluß zu fahren. (FZ, S.8f.)
Ungehorsam, Aufsassigkeit oder Heimlichkeiten bestraft diese Mutter nicht direkt, wie der Vater im Muschelessen, sondern durch die Induzierung von Schuldgefühlen bei ihren Kindern, die sich der allgegenwartigen Kontrolle entziehen wollen und zugleich fürchten müssen, eben dadurch für Krankheiten, Depressionen oder gar den frühen Tod ihrer Mutter verantwortlich zu werden. Diese emotionale Erpressung führt in unauflos-liche double binds, in denen die Kinder eine Scheidung ihrer standig streitenden Eltern herbeisehnen und zugleich fürchten, in denen Liebesbeteuerungen Angst auslosen und prinzipiell die emotionale Bedeutung jeder Außerung sich von ihrer informationellen Bedeutung unterscheidet.
Das Resultat dieser Kommunikationsverhaltnisse ist eine fundamentale Unsicherheit über die Bedeutung von ^Äußerungen und ihren Zusammenhang mit dem Verhalten der Sprecher: 'ich war nie ganz sicher', sagt die Erzahlerin (FZ, S.46). Noch die allnachtlichen Gespräche mit der alteren Schwester, die der kommunikativen Klarung der Familienkonflikte dienen sollen, vertiefen die Unsicherheit der Erzahlerin, weil sie offenbaren, wie unterschiedlich die Außerungen der Eltern interpretiert werden konnen (vgl. FZ S.16f., 26, 45). Konsens ist auch hier nur scheinbar zu erreichen, namlich durch jene Heimlichkeit, die auch den Umgang mit der kontrollierenden Mutter kennzeichnet:
Wasa lachte noch beim Einschlafen und sagte, was findest du besser, Lügen oder die Wahrheit? Ich fand beides ziemlich gefahrlich und wollte mich nicht entscheiden, [. . .] und schließlich [. . .] sagte sie: ich die Wahrheit. Also sagte ich, ich auch die Wahrheit, obwohl ich nicht sicher war, ob es stimmte. (FZ, S.45)
Die Unsicherheiten und Missverstandnisse, die alle Kommunikationsverhaltnisse in der Familie durchziehen, werden - wenigstens für die Erwachsenen - abgefedert durch eine feste Rollenverteilung, in der jedes Familienmitglied einen genau festgelegten Part zu spielen hat, um zumindest im Verhalten jene Ordnung zu garantieren, die die Kommunikation nicht herstellen kann. Im Muschelessen beschreibt die Erzahlerin das vom Vater vorgegebene Ziel, das allen Rollen zugrunde liegt:
es mußten sich ja alle umstellen, wenn mein Vater nach Hause kam, damit das Ganze eine richtige Familie war, wie mein Vater das nannte, weil er keine Familie gehabt hat, dafür hat er die genauesten Vorstellungen davon
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entwickelt, was eine richtige Familie ist, und er hat ausgesprochen empfindlich werden konnen, wenn man dagegen verstieß. (M, S.20) [. . .] in Wirklichkeit, haben wir gefunden, waren wir keine richtige Familie, alles in dieser Familie drehte sich nur darum, daß wir so tun mußten, als ob wir eine richtige Famile waren, wie mein Vater sich eine Familie vorgestellt hat. (M, S.23f.)
An festgelegten Skripts und Rollen orientiert sich das Verhalten auch dann, wenn die Machtverhaltnisse weniger eindeutig sind. Probleme erwachsen Vanderbekes Erzahlerinnen aber regelmaßig daraus, daß Rollenerwartungen zu diffus sind und gleichzeitig ihrem Selbstbild nicht entsprechen, also Anpassung und Verstellung erfordern, ohne doch wirkliche Sicherheit zu gewahrleisten. So konstatiert die werdende Mutter in Gut genug zum Thema 'mütterliches' Verhalten und Denken: 'Ich weiß nicht genau, was das ist. Bis heute. [. ..] Irgendein Trick ist dabei, alle fallen drauf rein, nur weißt du nicht, wie du durchkommst' (GG, S.7f.). Am Ende der Erzahlung heißt es dann: 'Ich hatte nach den paar Jahren gelernt, so zu tun, als ob ich die Mutter ware. A.C. hat gesagt, ich tu so, als ob ich der Vater ware, weil wir noch immer nicht wußten, wie es geht, und es aufgegeben hatten, jemand zu suchen, den wir fragen konnten' (GG, S.110).
Vielleicht am schwierigsten aber gestalten sich Kommunikationsverhaltnisse und Rollenerwartungen in Liebesbeziehungen, in denen entweder die wechselseitigen Wünsche und Erwartungen noch nicht festgelegt sind oder aber sich schon zur Routine verfestigt haben. Für die jugendliche Alberta in Alberta empfangt einen Liebhaber tut sich vor dem ersten Kuß ein Abgrund aus Schweigen auf, der das Vorhaben zunichte macht:
Sobald man anfängt, eine langere Weile schweigend herumzusitzen, verliert man unweigerlich die Entschlußkraft, die man zum Küssen braucht, und das gesamte Kußvorhaben erscheint einem nicht mehr unumgaänglich und unvermeidlich, sondern zunachst unpassend und zweifelhaft, spater anrüchig und schließlich leicht unappetitlich. [. . .] Je mehr man schweigend nebeneinander herumsitzt und denkt, um so weniger mag man. (A, S.16)
Die verzweifelte Entscheidung, das Schweigen nicht durch eine Handlung, sondern durch Kommunikation zu beenden, fuä hrt in unfreiwillige Komik, weil Alberta nichts anderes einfallt als ihren Freund zu fragen: 'Wie findest du eigentlich Brahms?', worauf der antwortet: 'Die Stones mag ich lieber' (A, S.20).
Viele Jahre spaäter, nach diversen Episoden einer immer schon im Ansatz gescheiterten Beziehung, die sich in der permanenten Spannung von hochgesteckten Erwartungen und Enttaäuschungserinnerungen von einer Begegnung zur nachsten fortspinnt, überlegt Alberta noch immer, woruä ber sie sich am besten mit Nadan unterhalten koännte - und sucht weiterhin Ausweichstrategien:
Irgend etwas Neutrales muäßte es sein, aber gerade in diesem Fall gab es nichts Neutrales, stellte ich fest. (A, S.99)
Nachdem die Suppe fertig war, wußte ich nicht, was ich mit dem offenkundig wahnhaften Gefühl von vollkommener Vertrautheit zu diesem Mann machen sollte. Nach dem bisherigen Stand meiner Uberlegungen würde ich nicht einen einzigen Satz zu ihm sagen konnen. (A, S.101)
Eine radikale Alternative zu solchem kommunikativen Scheitern praktiziert Lila in Fehlende Teile. Im Muschelessen hatte die junge Erzahlerin sich noch entschieden gegen jede Verstellung ausgesprochen und ihrer zur Anpassung geneigten Mutter erklaärt: 'Ich bin ziemlich sicher, daß ich mich nicht umstellen werde' (M, S.20). Die Mutter antwortet darauf mit der Prophezeiung: 'du findest sowieso keinen Mann'. Als akzeptiere sie die Voraussetzung dieser Prophezeiung betreibt in Vanderbekes naächstem Text die Erzahlerin Lila ein nahezu perfekt organisiertes Rollenspiel, in dem sie ihrem Mann unter anderem die Existenz eines heimlichen Liebhabers vorgaukelt, waährend der so tut, als waäre er blind. Der Grund fuä r die Erfindung dieser Figur der kaprizioä sen Lila ist die Vermutung der Erzahlerin, dass 'brauchbare Frauen langweilig sind' (FT, S.19) und deshalb um den Bestand ihrer Liebesbeziehungen fuä rchten muä ssen. Wie weit Lilas 'Spiel' (FT, S.5), diese 'Akrobatik' (FT, S.29) geht signalisiert die Tatsache, dass die Erzaählerin sich passagenweise von ihrem alter ego Lila vollig abspaltet und sie als eine Fremde beobachtet: 'Diese Frau gibt es nicht. Nicht so. Nicht als Frau, nicht als Mensch, nicht einmal als Figur' (FT, S.13). Zumindest ein kleiner, für die Außenwelt nicht zu bemerkender Unterschied muss immer bestehen:
ich sehe aus wie Lila, ich rede wie Lila, man merkt kaum den Unterschied, aber es ist dieser Unterschied, der ist. (FT, S.68)
Wenn Lila allein aus dem Haus geht, kann sie gar nichts dagegen machen, dann sieht sie wie Lila und trotzdem auch anders aus, und sie bewegt sich auch anders, gleich wenn sie rausgeht, geht sie anders, geloäster, mit ihrer eigenen Zeit. (FT, S.77)
Lilas 'Doppelleben' (A, S.47) sperrt sie im Klischee der sprunghaft-unzuverlaässigen, reizvollen und zugleich kindlich-hilflosen Frau ein, von dem sie annimmt, daß ihr Mann es attraktiv findet. Aä hnlich sieht sich Alberta mit der von Nadan beschriebenen Rolle einer 'Mizzebill' konfrontiert, die offenbar festschreiben soll, was sie fuä r ihn attraktiv macht: 'Eine Mizzebill ist so ziemlich das Uä belste, was einem Mann passieren kann. Eine Plage. Ungefahr eine Heuschreckenplage. Da kann man nichts machen' (A, S.26). Alberta weist die Zumutung der Rolle als exotischerotische Geliebte schließlich zuruä ck und schickt ihren 'Liebhaber' nach Hause. Aber auch Lila, die sich so viel Muä he mit ihrem Rollenspiel gibt, beendet ihre Erzaählung mit dem Bericht daruä ber, 'wie schnell das dann alles ging, wie schnell das vorüber war' (FT, S.111).
Laässt man diese Auswahl von Beispielen noch einmal Revue passieren,
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so erscheint die Kommunikation in intimen, emotional stark besetzten Beziehungen durch Missverstandnisse, Unsicherheiten, Angste und Unaufrichtigkeiten gepragt. In der Familie wie in der Liebe herrscht Krieg (FZ, S.6; A, S.109), der im Medium der Kommunikation ausgetragen wird und der diese Kommunikation zum Scheitern verurteilt, weil er sie für wirkliche Verstandigung untauglich macht.
Aber auch die emotional weniger stark besetzte Außenwelt wird in Birgit Vanderbekes Erzahlungen nicht als Feld für entspannte Kommunikation wahrgenommen, sondern als ein durch unübersichtliche Diffusitat gekennzeichneter, nicht selten Angst erregender Raum. Schon die Kinder in Friedliche Zeiten erlebten die gesellschaftliche Umwelt der sechziger Jahre als geheimnisvoll und 'schwer zu verstehen [. ..], weil wir alles nur brockchenweise erfuhren und dann zusammenzulegen versuchten, aber niemals fanden wir jemand, der es uns mal am Stück und im Ganzen erklart hatte' (FZ, S.67).
'Es' - das meint vor allem den Krieg, der in angedeuteten Erinnerungen an den Weltkrieg und nebulosen Angsten vor einem bevorstehenden Dritten Weltkrieg durch die Gespräche der Erwachsenen geistert. An der beunruhigenden Qualitat dieser Umwelt andert sich auch dann nicht viel, wenn sie in anderen Erzahlungen zum medienvermittelten Material für scheinbar belangloses Gerede wird: Kriege, Umweltzerstorung, Arbeitslosigkeit sind die bevorzugten Themen solcher Unterhaltungen, an denen allenfalls angenehm ist, dass sie 'nicht privat' sind (A, S.113; vgl. auch FT, S.73f.; GG, S.26). Vor allem in Vanderbekes jüngsten Erzahlungen tritt die gesellschaftliche Umwelt dann vor allem als mindestens lastige, manchmal aber auch angsterregende Zumutung an die Erzahlerin auf: abgehängt etwa ist gepragt durch aufdringliche Leser, die Erklarungen einfordern, einen Agenten, der marktgangigere Geschichten verlangt, und einen anonymen Anrufer, der die Erzahlerin bedroht. Von gelingender Kommunikation kann auch da keine Rede sein.
3. SELBSTBEWUSSTSEIN UND IRONIE
Die Liste der Beispiele konnte durchaus noch verlangert und differenziert werden. Aufschlussreicher ist es aber an diesem Punkt, die Aufmerksamkeit von den Kommunikationsformen umzulenken auf die Form ihrer Wahrnehmung und Darstellung in Birgit Vanderbekes Erzahlungen. Ein erstes Beispiel - aus der Erzahlung Gut genug - schließt an die gerade umrissene Vorstellung von der Umwelt als Irritationsquelle an:
Der Postbote klingelt mit einem Telegramm. Meine Mutter sagt, was du jetzt brauchst, Kind, ist Ruhe. Schon dich ein bißchen, pfleg dich und ruh dich aus. Laß dich mal richtig verwohnen. Am besten, du kommst ein paar Tage zu mir. Mein Vater sagt, zu uns. Das Kind ist ganz still. Meine Mutter sagt, das Kind ist so still. Wieso ist das Kind so still. A.C. sagt, wahrscheinlich ist es tot. Ich sage, vielleicht schlaft es nur. Meine Mutter sagt, du mußt es nicht
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immer auf den Ruäcken legen. Wenn es erbricht, erstickt es. Ich sage, was heißt immer, das Kind ist noch ziemlich neu. Es klingelt. (GG, S.46f.)
Wir erkennen in der zitierten Passage, die nur einen kleinen Ausschnitt aus einer mehrere Seiten langen Darstellung enthaält, Grundzuäge der Familien-Kommunikation wieder, die weiter oben untersucht wurde. Daneben enthaält diese Stelle aber noch ein anderes wichtiges Element, das fuä r Vanderbekes Texte besonders charakteristisch ist. Stil und Perspek-tivierung des Textes erzeugen den Eindruck, dass zwar ununterbrochen geredet wird, dass aber dabei gar keine Kommunikation stattfindet. Jeder Teilnehmer folgt einem eigenen Skript, das aber nur minimal mit den Außerungen der anderen Teilnehmer verknüpft ist. Zumindest aus der Perspektive der Erzaählerin haben wir es mit einem endlosen und ungegliederten Strom von Außerungen und anderen kommunikativen Ereignissen zu tun, die sich einfach nur aneinanderreihen, ohne etwas zu bedeuten.
Darstellungstechnisch wird dieser Eindruck dadurch verstaärkt, dass die gesamte, knapp fuä nf Seiten lange Passage weder durch Absaätze noch durch Anfuährungszeichen gegliedert ist, so daß sich der Leser mit einer scheinbar formlosen und zunehmend grotesk wirkenden Abfolge von Außerungen konfrontiert sieht, die nicht einzeln verstanden werden wollen, sondern in ihrer Gesamtheit, also als Kommunikationsform. Aus der Perspektive der Erzaählerin koä nnte man diese Kommunikationsform als eine Zumutung beschreiben, die ihre Aufnahmefaähigkeit oder -bereitschaft uä berstrapaziert. Vielleicht noch wichtiger ist aber ein zweiter Aspekt der zitierten Passage: die Erzaählperspektive, die ganz wesentlich fuä r den beschriebenen Eindruck kommunikativer Leere verantwortlich ist, stellt Kommunikation in der Wahrnehmung eines Bewusstseins dar. Und diese Perspektive charakterisiert einen Großteil von Vanderbekes Texten, bestimmt ihren Stil ebenso wie ihre Struktur.
Die These, dass Birgit Vanderbekes Texte uä berwiegend die Erzaählper-spektive eines wahrnehmenden Bewusstseins einnehmen, bedarf einiger Erlauterungen und Einschrankungen. Literaturgeschichtlich wird die Darstellung von Bewusstseinsvorgaängen normalerweise mit der Klassischen Moderne und der Form des Inneren Monologs oder Bewusstseinsstroms identifiziert. Charakeristisch für diese Form war die Annahme, dass das Bewusstsein primaär sprachlich strukturiert und daher auch unmittelbar in sprachlicher Form repraäsentiert werden koänne. Allerdings gestand man der Sprache des Bewusstseins gewisse Freiheiten von den grammatischen Regeln zu, die normalerweise die gesprochene und geschriebene Sprache strukturieren. Regeln der grammatischen Vollstaändigkeit und der Ver-knuä pfung von Saätzen waren außer Kraft gesetzt oder doch wenigstens relativiert, um anzudeuten, dass im Bewusstsein sowohl die eindeutigen logischen Verknuä pfungen der 'korrekten' Kommunikation als auch deren Orientierung an festen vorher/nachher-Schemata nur eingeschrankt gültig seien. Vor allem die Psychoanalyse behauptete, dass das Bewusstsein Worter nach ganz eigenen Regeln verknüpfe, um Unbewusstes zu repra-
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sentieren, und dass es weder Vergangenheit noch Zukunft kenne, sondern nur die dauernde Gegenwart aller Elemente, die es gerade repräsentiere.
Obwohl Vanderbekes frühe Bücher mit ihren bandwurmartigen Satzen und ihren langen, absatzlosen Textblöcken ein wesentliches Merkmal des Inneren Monologs aufnehmen, wird man ihre Texte kaum mit diesem Begriff beschreiben konnen. Aber der Innere Monolog spielt ja auch sonst für die Darstellung von Bewusstseinsvorgangen in der neueren deutschen Literatur keine allzu wichtige Rolle mehr und wirkt, wo er doch noch auftaucht, geradezu altmodisch. Das konnte damit zu tun haben, daß die Basisannahme, Bewusstsein konne direkt und authentisch in Sprache, also ins Medium der Kommunikation, überführt werden, mittlerweile an Popularitat verloren hat. Man glaubt dem Inneren Monolog nicht mehr so recht, dass er wirklich leistet, was er beansprucht, und daher wirkt er nicht authentisch, sondern besonders künstlich. An seiner Stelle hat sich -nicht zuletzt durch die modellbildende Rolle von Thomas Bernhards Romanen - seit einiger Zeit eine Form etabliert, die nicht so sehr das Denken als vielmehr das Sprechen nachzuahmen scheint und dabei insbesondere monologische oder indirekt-referierende Sprecharten bevorzugt. Solches Sprechen übernimmt nun die Funktion, die Wahrnehmungen und Denkvorgange eines Bewusstseins zu repräsentieren - indirekt, und immer schon im Wissen um die notwendige Ubersetzung in ein anderes Medium.
Eben dies ist die Grundlage des haufig beschriebenen 'Vanderbeke-Sounds'. Ihre Erzahlungen treten auf mit dem Gestus eines weitgehend monologischen Sprechens, in dem sich das Bewusstsein einer Erzahlerin ausdrückt, die nicht so sehr ihre Umwelt beschreibt als vielmehr ihre Wahrnehmung dieser Umwelt oder ihre Erinnerung an diese Wahrnehmung. Stilistisch schlagt sich dieses Verfahren vor allem in Vanderbekes frühen Texten in langen, absatzlosen Textblocken und einer merkwürdig ungrammatischen Syntax nieder, in der klare Grenzen zwischen den Satzen kaum zu erkennen sind. Meike Fessmann hat diesen Stil treffend beschrieben als eine 'wie spiralformig um sich selbst kreisende Rede, die immer nur ein kleines Stück vorankommt und Motivketten ausbildet, in die sich der laufende Text gleichsam einhakelt'.6
Die Erzahlung scheint einer Logik der ungeordnet dahinfließenden Rede zu gehorchen, die wiederum auf der Struktur eines sprachlich artikulierten Denkens ruht. Dieses Rede-Denken erzahlt keine Handlungsfolgen; Ereignisse sind ihm immer nur Anlasse zu Reflexion und Rason-ieren. Durch sprachliche Assoziationen angestoßen springt die Rede aus der Erzahlgegenwart in wechselnde Vergangenheiten, von einer Episode zu einer - nahezu beliebigen - anderen. Und auch wenn in spateren Texten kürzere Satze und Absatze dominieren und die Erzahlstruktur übersichtlicher wirkt, setzt sich ein Schreibverfahren fort, das seine Dyna-
6 Meike Fessmann, 'Vom Kinderkriegen', in Wagner (Hg.), S.234. Vgl. auch Arnold, S.83.
mik vor allem aus den sich ineinander verhakenden Sätzen gewinnt, nicht aus der linearen Abfolge von Ereignissen.7
Zwar finden sich - wie im Muschelessen - gelegentlich geradezu novellistische Kerne, um die herum Erinnerungen und Reflexionen der Erzahlstimme sich kristallisieren, und in den meisten Texten lasst sich eine grobe chronologische Abfolge von Ereignissen ausmachen, doch wird die Struktur der Erzahlungen durchweg vom reflektierenden Bewusstsein der Erzahlerin vorgegeben und nicht von erzahlbaren Handlungen. Das fuhrt zu einem lockeren, episodischen Aufbau der Texte, die erkennbare Ordnung vor allem aus der Wiederholung und Variation sprachlicher Leitmotive und nicht aus Handlungsfolgen gewinnen. Nicht immer ist dabei allerdings einsichtig, ob diese Leitmotive den Bedeutungsgehalt des Textes vertiefen und auffachern oder dem Publikum bloß als Merk- und Anhaltspunkte dienen. Vor allem Vanderbekesjüngste Arbeiten haben denn auch bei manchen Kritikern den Eindruck hinterlassen, sich allzu widerstandsund vielleicht sogar kunstlos einem Fluss inhaltlich belangloser Episoden und Assoziationen zu überlassen.8
Wenn die Darstellungsform doch einmal von Bewusstsein auf Handlung umgestellt wird, vereinfacht das die Verhaltnisse allerdings nicht. Im Gegenteil: Da die Beobachtung von Handlungen auch nur durch ein Bewusstsein erfolgen kann und dieses Bewusstsein aus seinen Beobachtungen Kommunikation macht, ergeben sich auf der Strecke zahlreiche Gelegenheiten fur kommunikative Komplikationen. Das demonstriert die Erzahlerin von Ich will meinen Mord, die dem Drangen ihres Verlegers auf popularere, und das heißt: handlungsorientierte Texte versuchsweise nachkommt. Schon bald nach dem Start der Erzahlung sieht sie sich mit dem Problem konfrontiert, dass alle von ihr beschriebenen Handlungen kontingent sind und also auch ganz anders verlaufen konnten. Gegen diese Einsicht helfen keine festen Entschlusse und guten Vorsatze - die einfache und übersichtliche Geschichte, die die Erzahlerin berichten will (und fiktiv erlebt) fa-chert sich rasch in eine Vielzahl von moglichen Variationen auf und muss immer wieder aus dem chronologischen Gerüst des vorher/nachher aussteigen, um wieder von vorne anzufangen und alternative Entwicklungsverlaufe berücksichtigen zu können. Was dem ungeduldigen Verleger der Erzahlerin als Problem ungenügender Personenführung und mangelnder Kontrolle über den Text erscheint, sieht diese selbst als Resultat ihres Bemühens, sich am 'Leben' (IwM, S.19) und seinen Mog-lichkeiten, statt an den Regeln marktgerechten Schreibens zu orientieren.
jede Geschichte kann per Computer in kürzester Zeit neu montiert und sogar vollkommen umgeschrieben werden [...]. Aber hieße das nicht,
7 Vgl. den Befund von Arnold, S.88 und 93, der aber trotzdem mit Alberta empfängt einen Liebhaber eine stilistisch-thematische Zasur in Vanderbekes Werk ansetzt.
8 Vgl. zu abgehängt Eva Leipprand, 'Deprimierend wie Nudelsalat', Der Tagesspiegel, 18.2.2001; Anton Thuswaldner, 'Was geschieht, wenn nichts geschieht', Frankfurter Rundschau, 31.5.2001.
jegliches Schriftstellerethos preiszugeben und fahrenzulassen, dessen Sinn und Aufgabe einzig darin bestehen kann, die Geschichten vor ihrem Umgeschriebenwerden zu schützen und zu bewahren (IwM, S.26)
Freilich beschreibt diese Erklarung gerade nicht Vanderbekes eigenes Verfahren in diesem Text, das namlich darin besteht, die Moglichkeiten des Umschreibens und Veranderns extensiv vorzuführen, so dass schließlich keine Version mehr einen alleinigen Geltungsanspruch erheben kann. Ahnliche Phanomene kann man auch in anderen Texten Vanderbekes finden - vor allem die Rollenspielerin Lila aus Fehlende Teile und die Schriftstellerin in abgehängt demonstrieren die Moglichkeitskomponente des Erzahlens als Spiel mit Variationen von Wirklichkeit und Imagination.
Im Vordergrund von Vanderbekes Texten steht jedoch meistens nicht das freie Spiel mit Wirklichkeitselementen, sondern die Befürchtung, von diesen überwaltigt zu werden. Immer wieder schreiben Vanderbekes Erzahlerinnen über die Anstrengung, eine bedrangende Umwelt zu verdrangen oder zu vergessen. Ein Modell dafür liefert der Kinobesuch der Kinder, von dem in Friedliche Zeiten berichtet wird:
es war gräßlich und schon auf einmal [. . .] Wir hatten versucht, gerade das moglichst lieber nicht zu sehen, weil es zu groß war, wenn man es auf Breitwand sah, aber manches war so plotzlich und überraschend passiert, daß wir nicht schnell genug die Augen zumachen konnten, bevor es über uns kam. (FZ, S.82, 88f.)
Die Erwachsenen, denen solche Wahrnehmungsverweigerung besser zu gelingen scheint, betreiben sie als harte, in langem Training perfektionierte Arbeit, wie etwa das Paar aus Fehlende Teile, doch müssen sie dafür, wie eine andere von Vanderbekes Erzahlerinnen bemerkt, einen hohen Preis bezahlen:
Einen großen Teil meiner Zeit verbringe ich damit, Sachen zu sehen, die ich lieber nicht gesehen hatte, manchmal versuche ich dann, sie nicht gesehen zu haben oder, wenn das nicht geht, zu vergessen. [. . .] Manchmal glaube ich, ich bin weggegangen, weil die Sachen, die ich lieber nicht gesehen hatte, immer mehr und mehr wurden und ich immer mehr Zeit damit zubringen mußte, sie nicht gesehen zu haben. (Isw, S.27)
Tatsachlich haben Vanderbekes Figuren die Beobachtung ihrer Umwelt haufig so weit auf die eigenen Bedürfnisse zugeschnitten, dass ihre Wahrnehmung ganz allein ihnen gehort und mit keinem Partner mehr abgestimmt werden kann. Die Folge ist, dass
ein Mann und eine Frau, sobald sie auch nur irgend etwas, und sei es das Belangloseste auf der Welt, zusammen machen, absolut etwas Verschiedenes sehen und horen und erleben und sich spater nie mehr darauf einigen konnen, was sie gesehen und gehort und erlebt haben, und genau darüber
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müssen sie aus irgendeinem dunklen Grund fortan versuchen, eine Einigung zu erlangen, und wahrend sie versuchen, sich darüber zu einigen, sehen und horen und erleben sie die ganze Zeit über wieder die grundverschiedensten Dinge, über die wieder Einigung erzielt werden muß und so weiter. (A, S.93)
'Ich sehe was, was du nicht siehst' ist durchaus nicht nur ein harmloses Spiel fur Kinder, sondern die Basis jeder Wahrnehmung. Als Grund fur die anfangs beschriebenen Probleme der Kommunikation erscheint nun die Tatsache der kategorialen Trennung von Kommunikation und Wahrnehmung oder Bewusstsein: Niemand erlebt, was ein anderer wahrnimmt, und keine Kommunikation darüber kann die individuellen Bewusstseine kurzschließen.
In thematischer Hinsicht gibt es offensichtlich gute Gründe, Birgit Vanderbekes Texte als 'bose Geschichte[n]' (A, S.53) zu beschreiben, so wie das der Ehemann der Erzahlerin in Alberta empfängt einen Liebhaber vorschlagt. Scheiternde Kommunikation und eine von Angst geprägte individuelle Wahrnehmung der Außenwelt konnen zur Charakterisierung fast aller dieser Erzahlungen herangezogen werden. Eine solche Beschreibung trifft aber offensichtlich nicht den vorherrschenden Leseeindruck, der die Kritiker immer zuerst von Leichtigkeit, Witz, Ironie oder wenigstens Sarkasmus schwarmen lasst. Auch die Erzahlerin von Albertas Geschichte stimmt dem Urteil ihres Mannes nicht zu, und ihre Begründung ist aufschlussreich:
Ich fand nicht, daß es eine bo se Geschichte war, vielleicht weil ich sie in heiterer, manchmal übermütiger Stimmung auf der Frühlingsterrasse mit Blick über den Fluß auf den Weinberg meines Schwiegervaters geschrieben hatte, den ich sehr mochte, und so kam sie mir drollig und absurd vor, aber Jean-Philippe beharrte darauf, daß sie bose sei. (A, S.53)
Das Kommunikations- und Beziehungsproblem zwischen der Erzahlerin und ihrem Mann wird in dieser Geschichte ausnahmsweise aufgelost - mit Hilfe einer Erzahlung. Interessanter ist aber zunachst festzustellen, wie diese Erzahlerin ihre eigene Schreibarbeit beobachtet. Die strikte Unterscheidung zwischen dem Thema der Erzahlung und den Umstanden ihrer Entstehung, zwischen Erzahlerin und Erzahltem führt eine zusatzliche Ebene in den Text ein, die sich in unterschiedlichen Formen auch in Vanderbekes anderen Texten aufspüren lasst und ihnen eine charakteristische innere Spannung verleiht. Kritiker sehen Vanderbekes Erzahlungen gerne vom 'milden Licht der Ironie' überstrahlt oder preisen eine 'frohliche[] Verzweiflung, die sich lachend mit dem Scheitern abgefunden hat'.9 Solche Ironie machen sie vor allem in der Haltung der Erzahlerinnen aus, die ihre Geschichten aus abgeklarter Distanz und ohne
9 Ursula Escherig, 'Enge, Miefigkeit, autoritares Denken', in Wagner (Hg.), S.259; Werner Fuld, 'Eine Plage von Frau', ebd., S.265.
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jene neurotische Uberhitzung erzahlen, die noch das Verhalten ihrer Eltern charakterisiert hatte. Tragische Losungen seien für Vanderbekes Figuren undenkbar geworden, statt dessen gaben sie sich abgeklart und desillusioniert.10
Thematisch macht sich das an der Beobachtung fest, dass selbst die Revolte gegen die Autoritat der Elterngeneration aus so großer zeitlicher Distanz dargestellt wird, dass die Erosion der Protestbewegungen und das unvermeidliche Erwachsenwerden der Figuren immer schon bewusst ist. Erzahlstrategisch liegt die ironische Struktur von Vanderbekes Texten in der Ausdehnung des Beobachtungsfeldes von der Umwelt auf Verhalten und Wahrnehmungen der Erzahlerin. Obwohl manche von Vanderbekes Erzahlerinnen zunachst naiv und unreflektiert wirken, zeichnen sie sich doch allesamt durch die Fahigkeit aus, sich selbst wie etwas Fremdes zu beobachten.11
Solche Selbstbeobachtung produziert einerseits eine Entfremdung der Figuren von sich selbst, die im Extremfall - Fehlende Teile - bis zur anatomischen Beobachtung eines ganzlich inauthentischen Rollenspiels gehen kann. Zugleich ist sie Voraussetzung von Aufklarung und Selbst-Bewusst-sein, wie sich am Beispiel der oben erwahnten Verdrangungsprozesse illustrieren lasst: Die Beschreibung des Vergessen- und Verdrangenwollens thematisiert das Verhalten und unterlauft es damit.
4. SELBSTREFERENZ
Vielleicht noch entscheidender ist aber die Einsicht, daß diese Formen der Selbstbeobachtung in zunehmendem Maße die scheinbar geschlossene, monologische Struktur von Vanderbekes Texten aufbrechen und die Leser in kommunikative Paradoxien verwickeln, in denen die Referenz der Texte auf eine außerhalb liegende Realitat ebenso wie die Beziehung zwischen den Texten und ihrer Autorin in Frage gestellt werden müssen.
Am deutlichsten laßt sich dieses Phanomen am Beispiel von Vanderbekes erfolgreichstem Text demonstrieren. Alberta empfängt einen Liebhaber kann beschrieben werden über die Interaktion von zwei Erzahlebenen, die eigentlich getrennt sein sollten: auf der ersten Ebene wird die Geschichte der permanent scheiternden Liebesbeziehung zwischen Alberta und Nadan erzahlt. Auf der zweiten Ebene identifiziert sich eine namenlose Erzahlerin als Autorin von Albertas Geschichte und beschreibt Ausschnitte ihres Alltags sowie eine Phase ihrer Arbeit an der zweiteiligen Erzahlung von Alberta. Dass diese Geschichte dabei auch als Kommunikationsmittel zwischen der Erzahlerin und ihrem Ehemann fungiert, kompliziert die Erzahlsituation insofern, als sie die Moglichkeit eröffnet, die Alberta-Geschichte unter einem in ihr selbst nicht thematisierten
10 Vgl. Gerhardt, S.104.
11 Vgl. dazu grundsatzlich Urs Bugmann, 'Ironie der Wahrnehmung', in Wagner (Hg.), S.118-34.
Blickwinkel zu lesen. Die eigentliche Irritation, die von dem Text ausgeht, rührt aber vor allem daher, dass im letzten Teil die beiden Erzahlebenen sich auf unvorhergesehene Weise vermischen: einerseits wird erkennbar, dass die Erzahlerin Elemente ihres eigenen Lebens in leicht veranderter Form in ihre Alberta-Geschichte einarbeitet, zum anderen aber gewinnt man auch den Eindruck, dass Aspekte dieser Geschichte einen Weg in die Lebenswelt der Erzahlerin finden, so dass man sich fragen muss, ob es sich vielleicht um eine kaum verhüllte autobiographische Erzahlung handelt.12
Eine solche Beschreibung bleibt freilich hinter der Komplexität des Textes und der in ihm angelegten Kommunikationssituation noch zurück, da sie allzu naiv Stimme und Situation der Erzahlerin für 'real' halt - und vielleicht sogar mit der wirklichen Autorin der Geschichte identifiziert. Genau dies ist aber das Missverständnis, das die Erzahlerin in Vanderbekes jüngstem Text - abgehängt - so wortreich beklagt: die Verwechslung von Erzahlerin und Autorin. Nahegelegt wird eine solche Verwechslung nicht nur durch die Suggestivkraft einer Ich-Erzahlung, die man für die authentische Stimme der Autorin halten mochte, sondern auch durch die Ahn-lichkeit der Lebenssituationen, die in vielen Vanderbeke-Texten beschrieben werden, mit den wenigen Details, die man aus der Biographie der Autorin kennt. abgehängt spielt mit solchen Verwechslungen, wenn es von einer erfolgreichen Schriftstellerin erzahlt, die sich von der öffentlichen Wahrnehmung ihrer Person zu distanzieren versucht und die Frage nach den 'realen' Personen ihrer Bücher zurückweist. Wiederum sind Einzelheiten aus dieser Schriftstellerexistenz leicht mit Vanderbekes Biografie kurzzuschließen - nur haben die Bücher dieser Schriftstellerin, deren Inhalt ausführlich nacherzahlt wird, mit Vanderbekes eigenen Büchern wenig zu tun.
Blickt man von Vanderbekes letztem Text auf ihre früheren Bü cher zurück, so zeigt sich, dass die wesentliche Veränderung weniger auf inhaltlichem Gebiet als vielmehr in formaler Hinsicht zu suchen ist. Mit der Thematisierung des Schreibprozesses und des Verhaltnisses zwischen Text, Autorin und Realitat erscheint eine neue Form der ironischen Selbstbeobachtung in ihren Erzahlungen, die auch den Leser dazu anhalt, seine Beziehung zum Text genauer zu beobachten. Alberta empfangt einen Liebhaber wird von hier aus erkennbar als ein Text mit mindestens drei Kommunikationsniveaus: die Interdependenz der beiden oben beschriebenen Ebenen signalisiert den fiktionalen Status des gesamten Textes und lasst als dritte Ebene den tatsachlichen Schreibprozess erkennbar werden, in dem die Autorin diese Kommunikationssituation konzipiert hat, um zusatzlich zu den beschriebenen Liebes- und Kommunikationsproblemen auch noch den Status der literarischen Erzahlung selbst zu thematisieren.
Vorlaufer einer solchen Strategie sind schon in den intertextuellen
12 So Birgit Ritter, 'La voix narrative dans Alberta empfängt einen Leibhaber [!] de Birgit Vanderbeke', in Cahiers d'Etudes Germaniques, 38 (2000), 125-34, hier 131. Ritters Analyse liefert nützliche erzahltechnische Details, bleibt allerdings hinter der Komplexitat des Textes zurück.
Spielen in Fehlende Teile und Ich will meinen Mord auszumachen, die explizit Literatur und den Schreibprozess zum Rohstoff ihrer Geschichten machen. abgehängt geht noch einen Schritt weiter, indem die Erzahlung diesmal die literarischen Texte, die einen ihrer Bezugspunkte bilden, selbst erst hervorbringt, so dass die scheinbar aus dem Text herausweisenden Referenzen immer nur auf ihn selbst zurückweisen. Neben den Bezügen auf die Gesellschaft der Bundesrepublik - und diese zunehmend überlagernd - haufen sich in Vanderbekes Texten solche selbstreferentiellen Elemente, die nicht zuletzt durch die Ubernahme und Variation schon bekannter Handlungselemente und Motive nach und nach einen Beziehungsraum zwischen ihren Erzahlungen herstellen.13
Zumindest Vanderbekes professionelle Leser haben ihre Bücher denn auch in zunehmendem Maße als Teile einer Serie rezipiert, die miteinander verglichen oder gegeneinander ausgespielt werden müssen. Kaum eine Rezension kommt ohne ausführliche Hinweise auf Vanderbekes frühere Veröffentlichungen, den 'Vanderbeke-Sound' oder bestimmte immer wiederkehrende Erzahlmotive aus, wenn es darum geht, den jeweils neuesten Text einzuordnen. Allerdings wird die Konstruktion solcher Beziehungen bislang vor allem als Arbeit der Kritiker angesehen, die 'typische' Aspekte von Vanderbekes Werk identifizieren und Verbesserungen oder Verschlechterungen ihrer Texte konstatieren, weil es über deren Handlung oder Thematik nicht genug zu sagen gibt. Alternativ soll hier vorgeschlagen werden, diesen Aspekt von Vanderbekes Texten als eines ihrer zentralen Themen zu behandeln: der selbstreferentielle Charakter literarischer Kommunikation, in der die Leser beobachten konnen, wie die Autorin ihre eigenen Welten konstruiert. Will man diese Kommunikation auf der Ebene der kommunizierten Themen beobachten, so sind Missverstandnisse, fehlerhafte Zuschreibungen und 'blaue Elefanten' nahezu unvermeidlich. Stellt man aber die Beobachtung um auf die Form der Kommunikation, so werden vielleicht einige 'grüne Nilpferde' sichtbar. Mit der Wirklichkeit darf man aber weder die ersteren noch die letzteren Wahrnehmungen verwechseln - sowohl blaue Elefanten als auch grüne Nilpferde kommen nur in literarischen Texten vor.
13 Vgl. etwa den weißen Whisky in IwM, S.111, und Isw, S.17f., oder die Straßenüberquerung bei roter Ampel in GG, S.110, und a, S.86.